Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Nichtzulassungsbeschwerde in einer Disziplinarsache – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 15. April 2021 – BVerwG 2 WNB 2.21
Leitsatz:
Das Wehrdienstgericht ist bei Ausübung seines Verfahrensermessens nach § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO grundsätzlich verpflichtet, bei einem ordnungsgemäßen Antrag eines Soldaten dem Rechtsanspruch auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK Rechnung zu tragen. Es hat bei der Auslegung dieser Vorschrift die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vorrangig zu beachten.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:
Nach § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO entscheidet das Truppendienstgericht ohne mündliche Verhandlung, kann jedoch mündliche Verhandlung anberaumen, wenn es dies für erforderlich hält. Dementsprechend ist im gerichtlichen Verfahren nach der Wehrbeschwerdeordnung die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung sowohl nach der gesetzlichen Konstruktion als auch in der Praxis der Wehrdienstgerichte der Regelfall (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. März 2014 – 1 WRB 1.14 u.a. – Buchholz 450.1 § 18 WBO Nr. 6 Rn. 16). Das Gesetz verlangt gleichwohl in jedem Einzelfall die Prüfung, ob eine mündliche Verhandlung ausnahmsweise erforderlich ist. Auch wenn die Norm mit dem Merkmal des „Für-Erforderlich-Haltens“ dem Wehrdienstgericht einen Beurteilungsspielraum einräumt, unterliegt die Frage der Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung nicht ausschließlich der subjektiven Einschätzung des jeweiligen Wehrdienstgerichts. Vielmehr gibt es im Rahmen des § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO Konstellationen, in denen die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung objektiv erforderlich ist und in denen daher das von § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO durch die Formulierung „kann“ eingeräumte Verfahrensermessen des Wehrdienstgerichts weitgehend eingeschränkt ist. Eine mündliche Verhandlung kann etwa erforderlich sein, wenn ein Verfahren in rechtlicher Hinsicht neue grundsätzliche Fragen aufwirft, die ein eingehendes Rechtsgespräch erfordern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. März 2014 – 1 WRB 1.14 u.a. – Buchholz 450.1 § 18 WBO Nr. 6 Rn. 20). Das Gleiche gilt, wenn in tatsächlicher Hinsicht die entscheidungserheblichen Tatsachen unklar und eine gerichtliche Beweisaufnahme in einer mündlichen Verhandlung unumgänglich ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Mai 2018 – 1 WNB 4.17 – juris Rn. 9). Im Rahmen der Rechtsbeschwerde ist die Entscheidung des Truppendienstgerichts über die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung nur daraufhin überprüfbar, ob sachfremde Erwägungen oder grobe Fehleinschätzungen vorgelegen haben oder ob das Gericht die rechtlichen Grenzen des ihm zustehenden Verfahrensermessens überschritten hat (vgl. BVerwG, Beschlüsse 18. Dezember 2014 – 8 B 47.14 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 4 und vom 29. Juni 2020 – 2 B 37.19 – juris Rn. 18).
Mit der Entscheidung, über die Streitsache ohne mündliche Verhandlung zu beschließen, hat das Truppendienstgericht die rechtlichen Grenzen des ihm durch § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO eingeräumten Ermessens überschritten. Es hat übersehen, dass eine öffentliche mündliche Verhandlung nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) geboten war. Nach dieser Vorschrift hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Dieser Rechtsanspruch auf eine öffentliche mündliche Verhandlung besteht in seiner zivilrechtlichen Bedeutung auch bei gerichtlichen Disziplinarverfahren vor den deutschen Wehrdienstgerichten (vgl. EGMR, Entscheidung vom 28. März 2017 – 19600/15, R.S./Deutschland – BeckRS 2017, 162736, Rn. 34; ebenso für beamtenrechtliche Disziplinarverfahren: EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 – 8453/04, Bayer/Deutschland – NVwZ 2010, 1015 Rn. 38 f.).
Das subjektive Recht auf eine öffentliche mündliche Verhandlung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK beschränkt das dem Wehrdienstgericht nach § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO zustehende Verfahrensermessen. Dies ergibt sich schon aus dem Rang des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK als innerstaatlich unmittelbar anwendbares Bundesgesetz (vgl. BVerfG, Urteil vom 12. Juni 2018 – 2 BvR 1738/12 u.a. – BVerfGE 148, 296 Rn. 127). Darüber hinaus folgt aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag auch eine vorrangige Beachtenspflicht der in der Konvention niedergelegten Garantien und der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dazu entwickelten Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 – 4 CN 9.98 – BVerwGE 110, 203 <210 ff.>). Denn das Grundgesetz will Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden (vgl. BVerfG, Urteil vom 4. Mai 2011 – 2 BvR 2365/09 u.a. – BVerfGE 128, 326 <368 f.>). Daher ist das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verbriefte Recht, zu den entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer öffentlichen mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen nicht nach dem „lex specialis“- oder „lex posterior“-Grundsatz durch § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO derogiert worden (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 – 4 CN 9.98 – BVerwGE 110, 203 <214>).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ist eine nationale Regelung, die – wie § 18 Abs. 2 Satz 3 WBO – für bestimmte Verfahren ein schriftliches Verfahren vorsieht, nur dann mit der Menschenrechtskonvention vereinbar, wenn der Prozessbeteiligte die Möglichkeit hat, eine öffentliche mündliche Verhandlung zu verlangen (vgl. EGMR, Urteil vom 9. April 2019 – 11236/09, Altay/Türkei – BeckRS 2019, 11367, Rn. 77). Im Falle eines Antrages muss die mündliche Verhandlung grundsätzlich durchgeführt werden. Etwas Anderes gilt nach ständiger, auf der Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelter höchstrichterlicher Rechtsprechung nur dann, wenn der Beteiligte bereits einmal im gerichtlichen Verfahren die Gelegenheit hatte, zu allen entscheidungserheblichen Rechts- und Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 18. Dezember 2014 – 8 B 47.14 – Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 85 Rn. 6 und vom 10. Juli 2019 – 1 B 57.19 u.a. – juris Rn. 11, 13 m.w.N). Außerdem kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die im Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK uneingeschränkt garantierte öffentliche mündliche Verhandlung auch dann ausnahmsweise unterbleiben, wenn ganz außergewöhnliche Umstände dies rechtfertigen (vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, 7. Aufl. 2021, § 24 Rn. 103 m.w.N.).
Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WNB 2.21
BVerwG 2 WNB 2.21
TDG Nord 1. Kammer – 15.04.2021 – AZ: TDG N 1 BLc 21/19 und N 1 RL 1/21