Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 15. Oktober 2020 – BVerwG 2 WD 1.20

Leitsatz:

Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet beim Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 1 StGB a.F.) die Dienstgradherabsetzung.

Keine Lösung von bindenden erstinstanzlichen Feststellungen bei falscher rechtlicher Würdigung (Rn. 19 f.)

Aufgrund der Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts steht für den Senat bindend fest, dass der frühere Soldat die angeschuldigten Taten begangen und dadurch überwiegend vorsätzlich und im Übrigen fahrlässig seine Pflicht zu außerdienstlichem Wohlverhalten nach § 17 Abs. 2 SG verletzt hat. Denn bei einer – wie hier – auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden.

Etwas anderes gilt nur, wenn die erstinstanzliche Entscheidung an schweren Mängeln des Verfahrens im Sinne von § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 Abs. 2 WDO leidet. Als schwerwiegender Mangel des Verfahrens ist u.a. das Fehlen von ausreichenden und widerspruchsfreien Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage anerkannt. Denn Voraussetzung für die im Berufungsverfahren zu treffende Entscheidung über die angemessene Disziplinarmaßnahme ist, dass die durch die Beschränkung der Berufung unangreifbar gewordenen Tat- und Schuldfeststellungen hinreichend nachvollziehbar, in sich schlüssig und widerspruchsfrei sind. Unklare, lückenhafte oder widersprüchliche Feststellungen können somit keine ausreichende Grundlage für das festzusetzende Disziplinarmaß sein (BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 – 2 WD 3.19 – juris Rn. 12 m.w.N.).

Nach Maßgabe dessen mögen zwar Bedenken an der Rechtsauffassung des Truppendienstgerichts bestehen, der frühere Soldat habe einen – wenn auch minder schweren – Fall des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 Abs. 1 StGB a.F.) begangen, weil es an einer Gewalteinwirkung fehlen könnte. Mit Gewalt wird Widerstand geleistet, wenn unter Einsatz materieller Zwangsmittel, vor allem körperlicher Kraft, ein tätiges Handeln gegen die Person des Vollstreckenden erfolgt, das geeignet ist, die Vollendung der Diensthandlung zumindest zu erschweren (BGH, Beschluss vom 11. Juni 2020 – 5 StR 157/20 – NJW 2020, 2347 Rn. 9); allein durch eine falsche rechtliche Würdigung werden die erstinstanzlichen Tatsachenfeststellungen jedoch noch nicht widersprüchlich (BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2018 – 2 WD 2.18 – juris Rn. 18). Dabei steht nach der Senatsrechtsprechung ebenfalls fest, dass die Bindungswirkung einer beschränkt eingelegten Berufung auch die konkreten Straftatbestände erfasst, aus denen das Truppendienstgericht die disziplinarische Relevanz – vorliegend im Sinne des § 17 Abs. 2 SG – abgeleitet hat (zum Verstoß gegen § 7 SG: BVerwG, Urteil vom 23. April 2015 – 2 WD 7.14 – juris Rn. 33). Ungeachtet dessen steht durch den Beschluss des Amtsgerichts Köln vom 3. Januar 2015 fest, dass der frühere Soldat zulässigerweise in Gewahrsam genommen worden ist.

Regelmaßnahme bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (Rn. 23 f.)

Auf der ersten Stufe bestimmt er zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen. Danach bildet im Fall des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 1 StGB a.F. Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die Dienstgradherabsetzung.

Zwar ist Schutzgut bei § 113 Abs. 1 StGB in der bis zum 30. Mai 2017 geltenden und zur Tatzeit gemäß § 2 Abs. 1 StGB maßgeblichen Fassung (BVerwG, Urteil vom 9. Januar 2007 – 2 WD 20.05 – BVerwGE 127, 293 Rn. 52) ausschließlich das staatliche Gewaltmonopol; auch sollten durch den eher niedrigen Strafrahmen Personen privilegiert werden, die sich in einer konflikthaften Situation einer überlegenen Staatsmacht gegenübersahen (Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 114 Rn. 2). Der Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol erlangt seine besondere disziplinarische Schwere vorliegend aber dadurch, dass er durch einen Soldaten erfolgte, der seinerseits als Amtswalter das staatliche Gewaltmonopol repräsentiert und den deshalb eine weitaus größere Verpflichtung als sonstige Bürger trifft, es strikt zu wahren und auch aktiv zu schützen. Dem widerspricht krass, als Amtsinhaber die Dienstleistung anderer Amtswalter gezielt zu erschweren und dadurch das staatliche Gewaltmonopol als Teil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung infrage zu stellen (BVerwG, Urteil vom 24. August 2018 – 2 WD 3.18 – BVerwGE 163, 16 Rn. 74, und Beschluss vom 27. Juli 2020 – 2 WDB 5.20 – juris Rn. 39).

Maßnahmemilderung bei überlangem Disziplinarverfahren (Rn. 38)

 Ein Verstoß gegen die Gewährleistung einer Verhandlung in angemessener Frist nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Rechtsschutzgewährung aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ist bei pflichtenmahnenden Disziplinarmaßnahmen durch eine Verringerung des Disziplinarmaßes auszugleichen. Dabei ist es eine Frage der Umstände des Einzelfalls, ob die Dauer unter Berücksichtigung der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten angemessen gewesen ist. Diese Prüfung ist ohne konkrete Zeitvorgaben oder abstrakte Orientierungswerte durchzuführen. Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur dann zu einer unangemessenen Verfahrenslänge, wenn sie auch bei Berücksichtigung des von Art. 97 Abs. 1 GG geschützten gerichtlichen Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind (BVerwG, Urteile vom 14. September 2017 – 2 WA 1.17 D – BVerwGE 159, 366 Rn. 13 ff. und vom 12. Juli 2018 – 2 WD 1.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 58 Rn. 42).

Nichtberücksichtigung des Zeitraums von Einleitungsverfügung bis Anschuldigungsschrift bei Verfahrensdauer (Rn. 41)

Zwar hat der Zeitraum vom Erlass der Einleitungsverfügung (Mai 2016) bis zur Vorlage der Anschuldigungsschrift beim Truppendienstgericht (Juni 2018) außer Betracht zu bleiben, da der frühere Soldat die Möglichkeit gehabt hätte, das Disziplinarverfahren durch einen Antrag nach § 101 Abs. 1 Satz 1 WDO zu beschleunigen. Berücksichtigungsfähig bleibt indes der Zeitraum von der Kenntniserlangung der Pflichtverletzungen durch den Bund – im Januar 2015 – bis zur Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens – Ende Mai 2016 -, da es einem Soldaten in dieser Verfahrensphase an einem dem § 101 Abs. 1 Satz 1 WDO vergleichbaren Rechtsbehelf fehlt (BVerwG, Urteil vom 2. Juli 2020 – 2 WD 9.19 – juris R. 35) und dem früheren Soldaten vorliegend auch mangels einer förmlichen Aussetzungsentscheidung der Wehrdisziplinaranwaltschaft (§ 83 Abs. 1 Satz 1 oder Abs. 3 Satz 1 WDO) nicht die Möglichkeit eröffnet worden ist, die damit verbundene Verlängerung der Verfahrensdauer im Rahmen eines Antrags nach § 83 Abs. 4 Satz 1 WDO überprüfen zu lassen.

Einleitungspflicht der Wehrdisziplinaranwaltschaft (Rn. 42)

Werden dem Wehrdisziplinaranwalt Tatsachen bekannt, welche die Verhängung einer gerichtlichen Disziplinarmaßnahme erwarten lassen, hat er nach § 92 Abs. 1 Satz 2 WDO Vorermittlungen aufzunehmen und die Entscheidung der Einleitungsbehörde herbeizuführen. Einzuleiten hat die Wehrdisziplinaranwaltschaft ein disziplinargerichtliches Verfahren gemäß § 92 Abs. 1 WDO bereits, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für den Anfangsverdacht eines Dienstvergehens vorliegen, bei dem als Sanktion eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme zu erwarten steht. Zwar reichen für einen Anfangsverdacht vage Anhaltspunkte und vage Vermutungen nicht aus, jedoch bedarf es – vergleichbar der Einleitung eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens nach § 152 Abs. 2 StPO – weder eines bereits hinreichenden noch gar eines dringenden Verdachts (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 152 Rn. 3b, 4; Kulhanek, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, § 152 Rn. 18, Stand Februar 2019). Ausreichend ist ein durch konkrete Tatsachen belegter, in der Lebenserfahrung begründeter Anhalt dafür, dass ein Dienstvergehen vorliegt (vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 28. Aufl. 2014, § 39 Rn. 15). Ist das der Fall, dürfen Einleitungsbehörde und Wehrdisziplinaranwaltschaft die Vorermittlungen nicht weiterführen, bis der Sachverhalt anschuldigungsreif aufgeklärt ist. Vielmehr haben sie das Verfahren einzuleiten und danach die noch nötigen weiteren Ermittlungen zu veranlassen. Ansonsten würde die gesetzliche Zweiteilung zwischen Einleitung des Verfahrens und Anschuldigung ebenso umgangen wie die verfahrensmäßige Sicherung einer beschleunigten Durchführung des vorgerichtlichen Verfahrens durch einen Antrag nach § 101 Abs. 1 Satz 1 WDO. Dabei unterliegt auch die Zeitdauer der Prüfung, ob ein hinreichender Anfangsverdacht vorliegt, dem Beschleunigungsgebot des § 17 Abs. 1 WDO (BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 -, BVerwGE 166, 189 Rn. 43).

Volltextveröffentlichung der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 1.20

BVerwG 2 WD 1.20
TDG Süd 4. Kammer – 14.10.2019 – AZ: TDG S 4 VL 15/18

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner