Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 4. März 2021 – BVerwG 2 WD 11.20
Leitsätze:
- § 84 Abs. 1 WDO verbietet nicht die Verwertung von Tatsachenfeststellungen, die
im strafgerichtlichen Verfahren auf der Grundlage eines verständigungsbasierten Geständnisses nach Maßgabe des § 257c StPO getroffen wurden. - Rügt ein Soldat Mängel des strafgerichtlichen Verfahrens, die weder offensichtlich
noch im strafprozessualen Rechtsmittelverfahren geltend gemacht worden sind, besteht regelmäßig kein Anlass, sich von den Tatsachenfeststellungen des Strafurteils zu
lösen. - Die Gleichstellungsbeauftragte ist im wehrdisziplinargerichtlichen Verfahren nicht zu beteiligen.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:
Zulässigkeit der disziplinaren Würdigung eines bereits strafrechtlich gewürdigten Verhaltens (Rn. 17,18)
Einer disziplinarischen Ahndung des bereits durch das Strafurteil strafrechtlich gewürdigten Verhaltens steht Art. 103 Abs. 3 GG nicht entgegen. Denn wehrdienstgerichtliche Disziplinarmaßnahmen stellen keine unzulässige Doppelbestrafung dar.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschlüsse vom 2. Mai 1967 – 2 BvR 391/64, 263/66 – BVerfGE 21, 378 <384>, vom 2. Mai 1967 – 2 BvL 1/66 – BVerfGE 21, 391 <401 ff.>, vom 22. Juli 1970 – 2 BvL 8/70 – BVerfGE 29, 125 <140 ff.> und vom 12. Oktober 1971 – 2 BvR 65/71 – BVerfGE 32, 40 <48>) und des erkennenden Senats unterscheiden sich strafrechtliche Bestrafung und disziplinarrechtliche Ahndung nach Rechtsgrund und Zweckbestimmung grundlegend. Das Wehrdisziplinarrecht ist Dienstordnungsrecht. Es soll die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung der Streitkräfte sichern und zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben beitragen. Folglich ist die disziplinargerichtliche Ahndung ausschließlich darauf ausgerichtet, einen geordneten und integren Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen („Sicherung der Integrität, das Ansehens und der Disziplin in der Bundeswehr“, BVerwG, Urteil vom 14. November 2007 – 2 WD 29.06 – Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 4 Rn. 34 und vom 4. Mai 2011 – 2 WD 2.10 – juris Rn. 24; zum Beamtendisziplinarrecht: BVerwG, Beschluss vom 17. Juni 2019 – 2 B 82.18 – Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 67 Rn. 8). Die Kriminalstrafe ist hingegen vom Vergeltungsprinzip geprägt und verfolgt den Zweck, der Begehung weiterer Straftaten entgegenzuwirken sowie dem Täter die Fähigkeit und den Willen zu verantwortlicher Lebensführung zu vermitteln und zu helfen, etwaige soziale Anpassungsschwierigkeiten, die mit der Tat zusammenhängen, zu überwinden (BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 2 WD 20.19 – juris Rn. 35; Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 46 Rn. 3 m.w.N.). Auch angesichts der im rechtswissenschaftlichen Schrifttum davon teilweise abweichenden Einschätzung zum Verhältnis von Straf- und Disziplinarrecht (Brüning, Das Verhältnis des Strafrechts zum Disziplinarrecht, 2017, S. 565, 569 und 578) sieht der Senat keinen Anlass, von seinem Rechtsstandpunkt abzuweichen (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 – 2 C 3.19 – NVwZ-RR 2020, 936 Rn. 21 und Beschluss vom 29. April 2019 – 2 B 25.18 – Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 83 Rn. 27 sowie).
Anforderungen an die Verfahrenseinstellung bei überlanger Dauer des Disziplinarverfahrens (Rn. 20)
Eine Verfahrenseinstellung wegen einer unangemessenen Verfahrensdauer kommt nur in extrem gelagerten Fällen in Betracht. Davon ist dann auszugehen, wenn unter Berücksichtigung des bisherigen und des noch zu erwartenden Verfahrensverlaufs, des noch im Raum stehenden Vorwurfs und gegebenenfalls besonderer persönlicher Umstände des Beschuldigten dessen weitere Belastung mit dem Verfahren selbst unter der Voraussetzung, dass sich die Tatvorwürfe später bestätigen, nicht mehr verhältnismäßig wäre (BVerwG, Beschluss vom 1. September 2917 – 2 WDB 4.17 – Buchholz 450.2 § 108 WDO Nr. 2 Rn. 10). Eine solche extreme Überlänge liegt hier nicht vor, weil schon die Gesamtdauer des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach Rechtskraft des Strafurteils im September 2016 mit viereinhalb Jahren kein außergewöhnliches Ausmaß erreicht. Vor allem kommt eine Verfahrenseinstellung wegen überlanger Verfahrensdauer nicht in Betracht, wenn die disziplinarische Höchstmaßnahme geboten ist (BVerwG, Urteile vom 6. September 2012 – 2 WD 26.11 – juris Rn. 39 f. m.w.N., vom 11. September 2014 – 2 WD 11.13 – juris Rn. 23 und vom 19. November 2020 – 2 WD 19.19 – juris Rn. 37; zum Beamtendisziplinarrecht: BVerwG, Urteil vom 28. Februar 2013 – 2 C 3.12 – BVerwGE 146, 98 Rn. 53 f.). Letzteres ist ausweislich der unter 6. dargelegten Erwägungen zur Maßnahmebemessung indes der Fall, so dass selbst eine Verfahrensdauer extremen Ausmaßes eine disziplinarische Ahndung nicht ausschlösse (BVerwG, Urteil vom 24. August 2018 – 2 WD 3.18 – BVerwGE 163, 16 Rn. 75).
Anforderungen zur Lösung von den gem. § 84 I WDO bindenden Tatsachenfeststellungen (Rn. 38, 39, 40)
Aus Sinn und Zweck des § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO, im Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unterschiedliche Feststellungen zu einem historischen Geschehensablauf durch unterschiedliche Entscheidungen zu verhindern, ergibt sich, dass die Wehrdienstgerichte an die Beweiswürdigung in einem sachgleichen rechtskräftigen Strafurteil grundsätzlich auch dann gebunden sind, wenn sie aufgrund eigener Würdigung abweichende Feststellungen für möglich halten. Anderenfalls wäre § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO auf Fälle beschränkt, in denen das Wehrdienstgericht der Beweiswürdigung des Strafgerichts ohnehin folgte (BVerwG, Urteil vom 15. März 2013 – 2 WD 15.11 – juris R. 24). Das aber wäre weder mit der in § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO normierten grundsätzlichen Bindung noch damit vereinbar, dass die Wehrdienstgerichte nach ihrer Zuständigkeit und Funktion keine Überprüfungsinstanz für Strafurteile sind (BVerwG, Urteile vom 7. Februar 2013 – 2 WD 36.12 – Rn. 29 und vom 25. August 2017 – 2 WD 2.17 – juris Rn. 29). Die bloße Möglichkeit, dass das Geschehen objektiv oder subjektiv auch anders gewesen sein könnte als vom Strafgericht festgestellt, reicht für einen Lösungsbeschluss folglich nicht aus.
Die Lösung von den tatsächlichen Feststellungen eines sachgleichen Strafurteils ist vielmehr auf Fälle beschränkt, in denen das Wehrdienstgericht ansonsten gezwungen wäre, auf der Grundlage offenkundig unzureichender oder inzwischen als unzutreffend erkannter Feststellungen zu entscheiden. Erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen bestehen dann, wenn die strafgerichtlichen Feststellungen in sich widersprüchlich oder sonst unschlüssig sind, im Widerspruch zu den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus sonstigen – vergleichbar gewichtigen – Gründen offenkundig unzureichend sind (BVerwG, Urteil vom 25. August 2017 – 2 WD 2.17 – juris Rn. 29).
Offenkundig unzureichend sind sie, wenn sie in einem entscheidungserheblichen Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind. Dies kann der Fall sein, wenn der Soldat geltend macht, dem strafgerichtlichen Urteil liege ein „Deal“ zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zugrunde, der den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Verfahrensabsprache nicht genüge (BVerwG, Urteil vom 14. März 2007 – 2 WD 3.06 – BVerwGE 128, 189 Rn. 26) oder es beruhe auf einem Formalgeständnis (BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2014 – 2 WD 31.12 – Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 7 Rn. 31 m.w.N.). Ein inhaltsleeres Formalgeständnis liegt wiederum nur dann vor, wenn die selbstbelastende Einlassung nicht wenigstens so konkret ist, dass geprüft werden kann, ob sie derart in Einklang mit der Aktenlage steht, dass sich hiernach keine weitergehende Sachaufklärung mehr aufdrängt (BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2014 – 2 WD 31.12 – Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 7 Rn. 33).
Strafrechtliche Verständigungen im Sinne des § 257c StPO unterfallen dem Anwendungsbereich des § 84 I WDO (Rn. 46)
Ob eine Verständigung entsprechend § 257c StPO im wehrdisziplinargerichtlichen Verfahren dessen Eigenart nach § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO entgegensteht und dies etwa durch § 60 Abs. 1 Satz 2 BDG gestützt wird (BT-Drs. 14/4659, S. 49; Schade, Der gerichtliche Vergleich im Disziplinarrecht der Beamten, 2017, S. 107 ff.), bedarf keiner Entscheidung (vgl. einerseits TDG Nord, Urteil vom 17. Dezember 2015 – N 5 VL 9/14 – S. 12; Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2017, § 108 Rn. 2, andererseits Walter, NZWehrr 2016, 203 <206>). Selbst wenn dies zuträfe, läge keine unzulässige Umgehung des Verbotes verständigungsbasierter Geständnisse im Wehrdisziplinarverfahren vor. Denn Anknüpfungspunkt ist nicht § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO, sondern § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO. Letzterer gebietet indes keine Auslegung dahingehend, dass er nur für strafgerichtliche Urteile gilt, deren Tatsachenfeststellungen auf keinem verständigungsbasierten Geständnis beruhen. Sein Wortlaut gibt für eine solche Anwendungsbeschränkung keinen Anhalt und der Bundesgesetzgeber hat auch nach Aufnahme der Verständigung durch das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2353) bei den zahlreichen Änderungen der Wehrdisziplinarordnung – zuletzt durch Art. 15 des Gesetzes zur nachhaltigen Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr vom 4. August 2019 (BGBl. I S. 1147) – keinen Anlass gesehen, auf verständigungsbasierten Geständnissen beruhende strafgerichtliche Tatsachenfeststellungen dem Anwendungsbereich des § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO zu entziehe, zumal Gegenstand der Verständigung nur die strafgerichtlichen Folgen, nicht aber die Schuldfrage und die richterlichen Tatsachenfeststellungen sein dürfen (§ 257c Abs. 2 StPO). Zudem eröffnet dessen Satz 2 weiterhin die Möglichkeit, evidenten Verfahrensverstößen gegen den – grundsätzlich verfassungsgemäßen (BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11 – BVerfGE 133, 168 <168 ff.>) – § 257c StPO entgegenzutreten.
Regelmaßnahme für sexuellen Missbrauch eines Kindes (Rn. 52)
Dabei entspricht es der Rechtsprechung des Senats, dass ein Soldat durch den – bereits einmaligen – sexuellen Missbrauch eines Kindes für die Bundeswehr im Grundsatz untragbar wird und aus dem Dienstverhältnis zu entfernen ist (BVerwG, Urteil vom 4. Juni 2020 – 2 WD 10.19 – juris Rn. 21). Danach bildet Ausgangpunkt der Zumessungserwägungen die Höchstmaßnahme.
Volltextveröffentlichung der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 11.20
BVerwG 2 WD 11.20
TDG Süd 3. Kammer – 12.11.2019 – AZ: TDG S 3 VL 13/18