Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 15. April 2021 – BVerwG 2 WD 14.20

Leitsatz:

  1. Eine Lösung von den tatsächlichen Feststellungen in einem sachgleichen rechtskräftigen Strafurteil gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO ist dem Wehrdienstgericht bei einer offenkundigen Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften durch das Strafgericht nur möglich, wenn sich dadurch Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen im Strafurteil ergeben.
  2. Unabhängig von der Vorgesetzteneigenschaft bildet beim Besitz kinder- und jugendpornographischer Dateien die Dienstgradherabsetzung den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Voraussetzungen der Lösung von tatsächlichen Feststellungen eines Strafurteils gem. § 84 WDO (Rn. 19, 20)

Als Ausnahme von der in § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO normierten Prozessregel der Bindung an strafgerichtliche Feststellungen ist ein Lösungsbeschluss nur unter engen Voraussetzungen zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Februar 2003 – 2 WD 8.02 – BVerwGE 117, 371 <372>). Aus dem Sinn und Zweck des § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO, im Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unterschiedliche Feststellungen zu einem historischen Geschehensablauf in verschiedenen rechtskräftigen Entscheidungen zu verhindern, ergibt sich, dass die Wehrdienstgerichte an die Beweiswürdigung in einem sachgleichen rechtskräftigen Strafurteil grundsätzlich auch dann gebunden sein sollen, wenn sie aufgrund eigener Würdigung abweichende Feststellungen für möglich halten. Denn die Wehrdienstgerichte sind nach ihrer Zuständigkeit und Funktion keine Überprüfungsinstanz für Strafurteile. Die bloße Möglichkeit, dass das Geschehen objektiv oder subjektiv anders gewesen sein könnte als vom Strafgericht rechtskräftig festgestellt, reicht daher für einen Lösungsbeschluss nicht aus (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2021 – 2 WD 11.20 – Rn. 38 ff. m.w.N.).

Die Lösung von den tatsächlichen Feststellungen eines sachgleichen rechtskräftigen strafgerichtlichen Urteils ist vielmehr auf Fälle beschränkt, in denen das Wehrdienstgericht sonst gezwungen wäre, auf der Grundlage offenkundig unzureichender oder inzwischen als unzutreffend erkannter Feststellungen zu entscheiden. Ausreichende Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen in diesem Sinne bestehen, wenn die strafgerichtlichen Feststellungen in sich widersprüchlich oder sonst unschlüssig sind, im Widerspruch zu den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus vergleichbar gewichtigen Gründen offenkundig unzureichend sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2014 – 2 WD 31.12 – Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 7 Rn. 30). Offenkundig unzureichend sind strafgerichtliche Feststellungen, wenn sie in einem entscheidungserheblichen Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind oder wenn entscheidungserhebliche neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht noch nicht zur Verfügung standen oder wenn die Beweiswürdigung im Strafurteil ausweislich der Urteilsgründe nicht nachvollziehbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2013 – 2 WD 15.11 – juris Rn. 24). Dabei kommt ein Lösungsbeschluss nur in Betracht, wenn sich die Zweifel an der Richtigkeit aus dem Urteil selbst oder in Verbindung mit dem Protokoll der Hauptverhandlung ergeben (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Januar 2014 – 2 WD 31.12 – Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 7 Rn. 31).

Regelmaßnahme bei Besitz von kinder- und jugendpornografischen Dateien (Rn. 31, 32, 34)

Diese besteht nach ständiger Rechtsprechung des Senats beim Besitz und beim Sichverschaffen kinder- und jugendpornographischer Dateien in einer Dienstgradherabsetzung. Im Fall des Verbreitens, Verschaffens und Zugänglichmachens derartiger Dateien ist im Regelfall die Höchstmaßnahme tat- und schuldangemessen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 2 WD 20.19 – juris Rn. 28 m.w.N.).

Diese Differenzierung orientiert sich an den unterschiedlichen gesetzlichen Strafrahmen in den hier maßgeblichen § 184b StGB 2008 und § 184c StGB 2008 für das jeweilige Fehlverhalten. So wurden der Besitz und das Sichverschaffen kinderpornographischer Darstellungen nach § 184b Abs. 4 StGB 2008 mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe sanktioniert, der Besitz und das Sicherverschaffen jugendpornographischer Darstellungen nach § 184c Abs. 4 StGB 2008 mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe. Für Fälle des Verbreitens, Verschaffens und Zugänglichmachens sahen § 184b Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 StGB 2008 bei kinderpornographischen Darstellungen mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren und § 184c Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 StGB 2008 bei jugendpornographischen Darstellungen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe demgegenüber jeweils einen deutlich höheren Strafrahmen vor. Dies hat seinen Grund darin, dass die aktive Beteiligung am kinder- und jugendpornographischen Marktgeschehen als Anbieter im Regelfall ein wesentlich größeres Unrecht darstellt als die eher passive Beteiligung als nachfragender Konsument. Diese strafrechtliche Wertung ist nach der Rechtsprechung des Senats auch für die disziplinarrechtliche Würdigung leitend. Die Orientierung am gesetzlichen Strafrahmen gewährleistet eine nachvollziehbare und gleichmäßige disziplinarische Ahndung. Sie verhindert, dass die Wehrdienstgerichte ihre jeweils eigene Einschätzung des Unwertgehalts eines Delikts oder die Einschätzung der Wehrdisziplinaranwaltschaft an die Stelle der Bewertung des Gesetzgebers setzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 – 2 WD 4.19 – juris Rn. 16 m.w.N.).

Allerdings wiederholt der Senat in diesem Zusammenhang mit Blick auf die vom Truppendienstgericht in Zweifel gezogene Opferrolle betroffener Jugendlicher ausdrücklich seine Auffassung, dass sowohl ein Soldat, der in strafbarer Weise kinderpornographische Dateien besitzt, als auch ein Soldat, der in strafbarer Weise jugendpornographische Dateien besitzt, dem Grunde nach zutiefst die Achtung und das Vertrauen verletzt, welche seine dienstliche Stellung erfordert. Denn hinter jeder kinder- und jugendpornographischen Datei, die er besitzt, steht ein tatsächlicher sexueller Missbrauch durch Herabwürdigung der betreffenden Kinder bzw. Jugendlichen zum bloßen Objekt sexueller Erregung und Befriedigung. Dies ist sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen in hohem Maße persönlichkeits- und sozialschädlich, greift in die sittliche Entwicklung eines jungen Menschen ein und gefährdet die harmonische Entwicklung seiner Gesamtpersönlichkeit sowie seine Einordnung in die Gemeinschaft, da die Kinder bzw. Jugendlichen wegen ihrer fehlenden bzw. noch nicht hinreichenden Reife intellektuell und gefühlsmäßig das Erlebte in der Regel gar nicht oder nur schwer verarbeiten können (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 – 2 WD 4.19 – juris Rn. 20 m.w.N.).

(…)

Die Anzahl der inkriminierten Dateien ist ein maßgebliches Kriterium für den Schweregrad des Dienstvergehens. So hält der Senat einen Übergang von der Regel- zur Höchstmaßnahme für geboten, wenn ein Soldat eine hohe Anzahl an kinder- und jugendpornographischen Dateien besitzt, was jedenfalls bei deutlich mehr als 2 000 Dateien grundsätzlich anzunehmen ist. Denn in einem solchen Fall wird der Markt für Kinder- und Jugendpornographie in einer dem Verbreiten derartiger Dateien vergleichbaren Weise gestützt; zudem indiziert eine hohe Anzahl strafrechtlich relevanter Dateien ein wiederholtes Handeln, in dem eine Verfestigung sozialschädlicher Persönlichkeitsstrukturen zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2018 – 2 WD 10.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 57 Rn. 43). Umgekehrt korrespondieren mit einer – wie hier – vergleichsweise geringen Anzahl kinder- und jugendpornographischer Dateien eine entsprechend geringere Anzahl geschädigter Kinder und Jugendlicher, eine entsprechend geringere Stützung des Marktes für solche Dateien und eine in dieser Hinsicht regelmäßig weniger verfestigte sozialschädliche Persönlichkeitsstruktur desjenigen, der diese Dateien besitzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2020 – 2 WD 4.19 – juris Rn. 22).

Berücksichtigung der Vorgesetzteneigenschaft bei Bemessung der Disziplinarmaßnahme (Rn. 33)

Entgegen der Annahme des Truppendienstgerichts ist bei der Bestimmung des Ausgangspunktes der Zumessungserwägungen nicht danach zu differenzieren, ob der betreffende Soldat zum Tatzeitpunkt Vorgesetzter war oder einen Mannschaftsdienstgrad innehatte. Denn die Pflichten zum treuen Dienen und innerdienstlichen Wohlverhalten gelten für alle Soldaten gleichermaßen. Da § 10 Abs. 1 SG bei Vorgesetzten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflichten erhöhte Anforderungen stellt, weshalb im Fall von Pflichtverletzungen schärfere Maßstäbe angelegt werden (vgl. BT-Drs. 2/1770 S. 19, BT-Drs. 2/2140 S. 6), ist aber eine etwaige Vorgesetzteneigenschaft auf der zweiten Stufe der Zumessungserwägungen verschärfend zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteile vom 23. April 2020 – 2 WD 4.19 – juris Rn. 21 und vom 1. Oktober 2020 – 2 WD 20.19 – juris Rn. 40). Soweit der Senat in dem vom Truppendienstgericht zitierten Urteil formuliert hat, bei Besitz kinderpornographischer Dateien eines Soldaten in Vorgesetztenstellung sei Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen eine Dienstgradherabsetzung (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2007 – 2 WD 19.06 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 23, 2. Leitsatz), stellt er klar, dass eine Vorgesetztenstellung nicht konstitutiv für den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ist. Auch wenn ein Mannschaftssoldat – wie hier – kinder- und jugendpornographische Dateien besitzt, bildet die Dienstgradherabsetzung den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.

Voraussetzungen eines sog. faktischen Beförderungsverbotes (Rn. 43)

Ein sogenanntes faktisches Beförderungsverbot von erheblich milderndem Gewicht liegt allerdings nicht vor. Hierfür genügt es nicht, dass eine Beförderung während des Verfahrens – wie hier – nach den laufbahnrechtlichen Voraussetzungen möglich gewesen wäre. Vielmehr muss eine konkret anstehende Beförderung durch das Disziplinarverfahren verhindert worden sein (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. Juni 2018 – 2 WD 4.18 – NZWehrr 2020, 114 <117> und vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 – BVerwGE 166, 189 Rn. 34 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt vor, wenn – anders als hier – die Aushändigung einer bereits erstellten Beförderungsurkunde aktenkundig wegen des Disziplinarverfahrens unterbleibt (dazu BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2018 – 2 WD 4.18 – NZWehrr 2020, 114 <117>) oder wenn nach Bestehen einer beruflichen Prüfung regelmäßig eine Beförderung erfolgt und dies im konkreten Fall allein wegen des Disziplinarverfahrens entfällt (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 – BVerwGE 166, 189 Rn. 34).

Volltextveröffentlichung der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 14.20

BVerwG 2 WD 14.20
TDG Süd 5. Kammer – 15.01.2020 – AZ: TDG S 5 VL 36/16

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