Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 30. Juni 2022 – BVerwG 2 WD 14.21

Leitsätze:

1. Eine Schülerpraktikantin bei der Bundeswehr unterfällt dem Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.

2. Die sexuelle Belästigung einer bei der Bundeswehr beschäftigten Schülerpraktikantin durch einen Soldaten ist im Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen mit einer Dienstgradherabsetzung zu ahnden.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Anforderungen an die Beweiswürdigung bei einer „Aussage gegen Aussage“-Konstellation (Rn. 20)

Nach § 123 Satz 3 i. V. m. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 261 StPO hat der Senat über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Die für die Überführung eines Angeschuldigten erforderliche persönliche Gewissheit des Tatrichters erfordert ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen (BVerwG, Urteil vom 24. Januar 2019 – 2 WD 16.18 – juris Rn. 14). Dabei ist der Senat nicht schon aufgrund des Zweifelsgrundsatzes an einer Verurteilung gehindert, wenn „Aussage gegen Aussage“ steht und außer der Aussage des einzigen Belastungszeugen keine weiteren belastenden Indizien vorliegen (BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 – 2 WD 1.21 – juris Rn. 20). In einem solchen Fall bedarf es aber einer besonders sorgfältigen Gesamtwürdigung aller Umstände. Erforderlich sind vor allem eine sorgfältige Inhaltsanalyse, eine möglichst genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage, eine Bewertung des feststellbaren Aussagemotivs sowie eine Prüfung von Konstanz, Detailliertheit und Plausibilität der Angaben (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2020 – 1 StR 299/20 – NStZ-RR 2021, 24).

Schülerpraktikantin bei der Bundeswehr unterfällt dem persönlichen Anwendungsbereich des AGG (Rn. 45)

Eine Schülerpraktikantin bei der Bundeswehr unterfällt gemäß § 6 Abs. 1 AGG dem persönlichen Anwendungsbereich des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Vor Benachteiligungen geschützt sind danach die „Beschäftigten“ in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst (vgl. BT-Drs. 16/1780 S. 34). Dazu gehören gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AGG auch die „zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten“. Diese Regelung geht über den Wortlaut des § 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ArbGG hinaus, indem er sich nicht auf die zu ihrer Berufs aus bildung beschäftigten Personen beschränkt. Zur Berufsbildung (vgl. § 1 Abs. 1 BBiG) zählen neben der Berufsausbildung (§ 1 Abs. 3 BBiG) die Berufsausbildungsvorbereitung (§ 1 Abs. 2 BBiG), die berufliche Fortbildung (§ 1 Abs. 4 BBiG) und die berufliche Umschulung (§ 1 Abs. 5 BBiG). Ferner werden nicht nur die dem BBiG unterliegenden Berufsausbildungsverhältnisse einbezogen, sondern nach § 26 BBiG auch Umschüler, Volontäre, Praktikanten und andere, die, ohne dass ein Arbeitsverhältnis vereinbart ist, eingestellt werden, um berufliche Fertigkeiten, Kenntnisse, Fähigkeiten oder berufliche Erfahrungen zu erwerben, sofern sie einem dem Beschäftigungsverhältnis vergleichbaren Weisungsverhältnis unterliegen (vgl. Staudinger/Serr, in: Staudinger, BGB, Stand September 2020, § 6 AGG Rn. 6 m. w. N.; siehe auch Kalb, in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, § 6 AGG Rn. 6; Riesenhuber, in: Ermann, BGB, 16. Aufl. 2020, § 6 AGG Rn. 3).

Anwendbarkeit des AGG für Soldaten neben dem SoldGG (Rn. 46)

Der frühere Soldat hatte ihr gegenüber das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot zu beachten. Es gilt nicht nur für den Arbeitgeber, sondern auch für dort Beschäftigte und Dritte (vgl. § 7 Abs. 3, § 12 Abs. 4 AGG). Dass Soldaten selbst nicht gemäß § 6 Abs. 1, § 24 AGG dem Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, sondern nach § 6 SoldGG dem Schutz des Gesetzes über die Gleichbehandlung der Soldatinnen und Soldaten unterfallen, führt nicht zur Unanwendbarkeit des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, wenn sie ihrerseits an ihrer Dienststelle Beschäftigte benachteiligen, für die der Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gilt.

Anforderungen an eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG (Rn. 48)

Eine sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 Abs. 4 AGG liegt vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch sexuell bestimmte körperliche Berührungen und Bemerkungen sexuellen Inhalts gehören, bezweckt oder bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Schutzgut des § 3 Abs. 4 AGG ist die sexuelle Selbstbestimmung als Konkretisierung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gewährleistet es, selbst darüber zu entscheiden, unter den gegebenen Umständen von einem anderen in ein sexualbezogenes Geschehen involviert zu werden. Bei Handlungen, die nicht unmittelbar das Geschlechtliche im Menschen zum Gegenstand haben, wie z. B. Umarmungen, kann sich eine Sexualbezogenheit aufgrund einer mit ihnen verfolgten sexuellen Absicht ergeben (vgl. BAG, Urteile vom 29. Juni 2017 – 2 AZR 302/16 – NJW 2017, 3018 Rn. 18 und vom 20. Mai 2021 – 2 AZR 596/20 – NJW 2021, 3138 Rn. 24).

Verletzung der Kameradschaftspflicht nach § 12 Satz 1 SG durch außerdienstlichen gewaltsamen Übergriff (Rn. 59)

Die Pflicht zur Kameradschaft ist nach § 12 Satz 1 SG für den Zusammenhalt der Bundeswehr wesentlich. Sie gilt daher innerhalb und außerhalb des Dienstes (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 – 2 WD 1.21 – juris Rn. 31). Sie verpflichtet alle Soldaten gemäß § 12 Satz 2 SG, die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten, und verbietet es, durch – wie hier – gewaltsame Übergriffe das Recht auf körperliche Unversehrtheit eines anderen Soldaten zu verletzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 – 2 WD 1.21 – juris Rn. 31 m. w. N.).

Keine Strafbarkeit nach § 30 WStG bei außerdienstlicher Handlung im Affekt (Rn. 62)

Nicht hingegen hat sich der frühere Soldat nach § 30 Abs. 1 WStG strafbar gemacht, der den erhöhten Schutz des Untergebenen gegen die missbräuchliche Ausnutzung der dem Vorgesetzten anvertrauten Gewalt bezweckt (vgl. BGH, Urteil vom 7. April 1970 – 1 StR 487/69 – NJW 1970, 1332). Er gilt nach § 36 Abs. 1 WStG entsprechend für Taten eines Soldaten, der zur Zeit der Tat nicht Vorgesetzter eines anderen, aber Offizier oder Unteroffizier ist und einen höheren Dienstgrad als der andere hat (Nr. 1) oder im Dienst dessen Vorgesetzter ist (Nr. 2). Ferner muss dieser bei der Tat seine Dienststellung missbraucht haben. Zwar war der frühere Soldat Stabsunteroffizier und hatte einen höheren Dienstgrad als der Hauptgefreite C und war zudem im Dienst dessen Vorgesetzter. Er hat aber bei der Tat nicht – wie es § 36 Abs. 1 WStG sowohl für Nr. 1 als auch für Nr. 2 voraussetzt (vgl. BT-Drs. 2/3040 S. 40) – seine Dienststellung missbraucht. Vielmehr handelte es sich um eine Affekthandlung des früheren Soldaten im alkoholisierten Zustand im Verlauf eines außerdienstlichen Streitgesprächs (vgl. OVG Saarland, Beschluss vom 10. Juni 2020 – 1 A 353/18 – juris Rn. 17).

Regelmaßnahme bei sexuellen Belästigungen von Untergebenen im Dienst (Rn. 68)

Bei sexuellen Belästigungen von Untergebenen im Dienst ist regelmäßig eine Herabsetzung im Dienstgrad Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. April 2021 – 2 WD 15.20 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 91 Rn. 35 m. w. N.). Entsprechendes gilt bei sexuellen Belästigungen von dienstlich unterstellten Zivilbediensteten (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. November 1998 – 2 WD 12.98 – BVerwGE 113, 290 <293>). Denn zur Funktionsfähigkeit der Bundeswehr trägt nicht nur die integre Kameradschaft der Soldaten, sondern auch die reibungslose und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr bei (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Februar 2000 – 2 WD 30.99 – juris Rn. 6).

Derselbe Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ist für eine sexuelle Belästigung eines zivilen Schülerpraktikanten der Bundeswehr durch einen Soldaten im Dienst angezeigt. Zwar ist damit weder eine Kameradschaftspflichtverletzung verbunden noch wird dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Soldaten und regelbeschäftigten zivilen Mitarbeitern beeinträchtigt. Jedoch unterfallen bei der Bundeswehr beschäftigte Schülerpraktikanten aus den zuvor dargelegten Gründen gleichermaßen wie dort regelbeschäftigte zivile Mitarbeiter dem Schutz des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Sie verfügen zudem in aller Regel – wie Rekruten – weder über Erfahrungen mit den Schutzmechanismen gegen Übergriffe noch über ein hinreichendes Selbstbewusstsein zur Durchsetzung ihrer Rechte. Mit den Möglichkeiten, sich gegen Fehlverhalten zur Wehr zu setzen, sind sie noch nicht vertraut und durch die Sorge über etwaige nachteilige Folgen einer Meldung leicht einzuschüchtern (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. März 2020 – 2 WD 3.19 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 72 Rn. 36 zu Rekruten). Dies rechtfertigt es, denselben Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen wie bei sexuellen Belästigungen von Kameraden und regelbeschäftigten Zivilbediensteten anzusetzen.

Regelmaßnahme bei außerdienstlichen vorsätzlichen Körperverletzungen (Rn. 70)

Bei außerdienstlichen vorsätzlichen Körperverletzungen ist eine Herabsetzung im Dienstgrad Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen, wenn eine brutale körperliche Misshandlung im Sinne der §§ 224 bis 227 StGB vorliegt. Dasselbe gilt, wenn in der Verletzungshandlung in der Intensität der Schutzgutverletzung eine kriminelle Energie zum Ausdruck kommt, die mit derjenigen einer gefährlichen Körperverletzung vergleichbar ist und die wegen des Maßes an Disziplinlosigkeit in vergleichbarer Weise Zweifel an der Integrität eines Soldaten weckt (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Februar 2022 – 2 WD 1.21 – juris Rn. 33 m. w. N.). Ein solcher Fall liegt hier vor. In dem mehrfachen Zuschlagen mit der Faust, dem „In-den-Schwitzkasten-Nehmen“ und dem Beißen, infolge derer das Opfer mehrfach vor Ort zusammenbrach und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, kommt eine kriminelle Energie zum Ausdruck, die mit derjenigen einer gefährlichen Körperverletzung vergleichbar ist.

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 14.21

BVerwG 2 WD 14.21
TDG Süd 4. Kammer – 23.06.2021 – AZ: S 4 VL 12/18

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