Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 20. Januar 2022 – BVerwG 2 WD 2.21

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Voraussetzungen der Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts zur Rechtsmittelrücknahme (Rn. 18)

Nach dem gem. § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO entsprechend anwendbaren § 302 Abs. 2 StPO bedarf der Verteidiger zur Zurücknahme eines Rechtsmittels einer ausdrücklichen Ermächtigung. Es kann dahingestellt bleiben, ob die dem früheren Verteidiger erteilte Vollmacht vom 1. Oktober 2009 allein mit ihrem pauschalen Hinweis auf § 302 StPO – ohne Angabe des Absatzes 2 – die Ermächtigung einschloss, die Berufung zurückzunehmen. Selbst wenn man davon ausginge, wäre sie damit noch immer allgemein und nicht im Hinblick auf ein konkretes Rechtsmittelverfahren erteilt worden. Der Senat teilt insoweit die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs, dass eine bereits bei der Übernahme des Mandats allgemein erteilte Vollmacht nicht ausreicht, um den Verteidiger als ermächtigt anzusehen, ein Rechtsmittel zurückzunehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2000 – 3 StR 284/00 – juris Rn. 1; Meyer-Goßner, StPO, Kommentar, 55. Aufl. 2012, § 302 Rn. 32). Dies würde dem Zweck des § 302 Abs. 2 WDO widersprechen, dem Soldaten vor der Ermächtigung zur Abgabe der Erklärung die Möglichkeit zur anwaltlichen Beratung über ihre Folgen zu geben. Etwas anderes gilt zwar dann, wenn einem erst zur Durchführung des Rechtsmittelverfahrens beauftragten Verteidiger eine allgemeine Ermächtigung zur Rechtsmittelrücknahme erteilt worden ist (BGH, Beschluss vom 23. April 1998 – 4 StR 132/98 – juris, Rn. 2).

Möglichkeit der Durchführung einer Berufungshauptverhandlung ohne persönliche Anwesenheit des Soldaten (Rn. 20)

Gemäß § 124 WDO findet – außer in den Fällen des § 104 Abs. 1 WDO – die Berufungshauptverhandlung auch dann ohne den Soldaten statt, wenn dieser ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass in seiner Abwesenheit verhandelt werden kann. Die Regelung gilt auch für frühere Soldaten (Urteil vom 28. November 2007 – BVerwG 2 WD 28.06 – BVerwGE 130, 65 = Buchholz 450.2 § 124 WDO 2002 Nr. 1, jeweils Rn. 23 ff.).

Beschränkung der Berufung auf Disziplinarmaßnahme lässt Prüfung der Prozessvoraussetzungen und möglicher Verfahrenshindernisse unberührt (Rn. 22)

Von der Beschränkung der Berufung unberührt bleibt allerdings die Prüfung der Prozessvoraussetzungen und möglicher Verfahrenshindernisse. Verfahrensmängel werden bei einer beschränkten Berufung zwar regelmäßig gegenstandslos, soweit sie nicht das gesamte disziplinargerichtliche Verfahren oder den gerichtlichen Verfahrensabschnitt unzulässig machen. Beachtlich sind jedoch Aufklärungs- und Verfahrensmängel von solcher Schwere, dass sie die Grundlage der vom Senat zu treffenden Entscheidung über die Maßnahmebemessung – die tatsächlichen und disziplinarrechtlichen Feststellungen zur Schuld des Soldaten – erschüttern (Urteil vom 25. Oktober 2012 – BVerwG 2 WD 33.11 – juris Rn. 33 m.w.N., sowie Beschluss vom 24. März 2010 – BVerwG 2 WD 10.09 – juris Rn. 15). Dies kann auch dann der Fall sein, wenn das Truppendienstgericht eine Lösung von den tatsächlichen Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils nicht vorgenommen hat, um die für eine rechtsfehlerfreie Entscheidung hinreichenden tatsächlichen Feststellungen treffen zu können (Beschluss vom 19. August 2009 – BVerwG 2 WD 31.08 – Buchholz 450.2 § 121 WDO 2002 Nr. 1 Rn. 16).

Anforderungen an Lösungsbeschluss nach § 84 WDO (Rn. 24)

Aus dem Sinn und Zweck des § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO, im Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes unterschiedliche Feststellungen zu einem historischen Geschehensablauf in verschiedenen rechtskräftigen Entscheidungen zu verhindern, ergibt sich, dass die Wehrdienstgerichte an die Beweiswürdigung in einem sachgleichen rechtskräftigen Strafurteil grundsätzlich auch dann gebunden sein sollen, wenn sie aufgrund eigener Würdigung abweichende Feststellungen für möglich halten. Anderenfalls wäre § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO auf Fälle beschränkt, in denen das Wehrdienstgericht der Beweiswürdigung des Strafgerichts ohnehin folgen würde. Das aber wäre weder mit der in § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO normierten grundsätzlichen Bindung noch damit vereinbar, dass die Wehrdienstgerichte nach ihrer Zuständigkeit und Funktion keine Überprüfungsinstanz für Strafurteile sind (Urteil vom 7. Februar 2013 – BVerwG 2 WD 36.12 – Rn. 29). Die bloße Möglichkeit, dass das Geschehen objektiv oder subjektiv auch anders gewesen sein könnte als vom Strafgericht rechtskräftig festgestellt, reicht für einen Lösungsbeschluss nicht aus. Erhebliche und damit für einen Lösungsbeschluss ausreichende Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen bestehen erst dann, wenn die strafgerichtlichen Feststellungen in sich widersprüchlich oder sonst unschlüssig sind, im Widerspruch zu den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus sonstigen – vergleichbar gewichtigen – Gründen offenkundig unzureichend sind. Offenkundig unzureichend in diesem Sinne sind strafgerichtliche Feststellungen dann, wenn sie in einem entscheidungserheblichen Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind oder wenn entscheidungserheblich neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht noch nicht zur Verfügung standen oder wenn die im strafgerichtlichen Urteil vorgenommene Beweiswürdigung ausweislich der Urteilsgründe nicht nachvollziehbar ist (Urteil vom 14. November 2007 – BVerwG 2 WD 29.06 – Buchholz 450.2 § 84 WDO 2002 Nr. 4 Rn. 31 m.w.N.). Gründe dieser Art folgen aus dem Einwand des früheren Soldaten nicht; sie sind auch im Übrigen nicht ersichtlich. Für die Frage einer Loslösung von den strafgerichtlichen Feststellungen ohne Bedeutung bleibt deshalb namentlich die Motivation des früheren Soldaten, im Interesse des Kindes auf dessen Vernehmung nicht zu bestehen. Dieser Umstand erlangt vielmehr bei der Prüfung Bedeutung, welche – positiven – Rückschlüsse eine solche Gesinnung auf seine Persönlichkeit zulässt.

Regelmaßnahme bei sexuellem Missbrauch eines Kindes (Rn. 38 f.)

Soweit es die Handlung des früheren Soldaten betrifft, die den sexuellen Missbrauch eines Kindes zum Gegenstand hat, bildet die disziplinarische Höchstmaßnahme den Ausgangspunkt der Zumessungserwägung. Dass in den Soldaten gesetzte Vertrauen ist durch ein solches schweres Dienstvergehen im Regelfall endgültig verloren gegangen; dem Dienstherrn kann bei objektiver Betrachtung eine Fortsetzung des Dienstverhältnisses nicht mehr zugemutet werden (Urteil vom 27. Juli 2010 – BVerwG 2 WD 5.09 – juris Rn. 28 m.w.N. <insoweit nicht veröffentlicht in Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 30>; Urteil des 2. Revisionssenats vom 25. März 2010, – BVerwG 2 C 83.08 – BVerwGE 136, 173 = Buchholz 235.1 § 13 BDG Nr. 11 jeweils Rn. 18, zu § 176 Abs. 1 StGB; bei Sexualdelikten zulasten Erwachsener: Urteil vom 30. Oktober 2012 – BVerwG 2 WD 28.11 – Rn. 54). Da allein die objektive Betrachtung maßgeblich ist, erlangt auch keine rechtliche Bedeutung, dass der Dienstherr den früheren Soldaten nach der Begehung des Dienstvergehens den Dienst unverändert hat versehen lassen (Urteile vom 16. Dezember 2010 – BVerwG 2 WD 43.09 – Rn. 48, und vom 30. Oktober 2012 a.a.O. Rn. 58).

Es besteht auch kein Anlass, von dieser Regelmaßnahme deshalb abzuweichen, weil der Strafrahmen des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB weniger weit reicht als bei einem Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB, womit der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung getragen hat, dass es im Falle des § 176 Abs. 4 StGB zu keinem Körperkontakt zwischen Täter und Opfer gekommen ist. Die Bemessung der Disziplinarmaßnahme ist nicht schematisch an der Strafandrohung des Strafgesetzbuches orientiert; maßgeblich ist aus disziplinarischer Sicht vielmehr, dass in beiden Fällen die Verletzung des gleichen Schutzgutes ein gleiches Maß an Zweifeln an der persönlichen Integrität des (früheren) Soldaten begründet. Schutzgut bildet nämlich in beiden Varianten des § 176 StGB die Möglichkeit des Kindes zur freien Entwicklung seiner sexuellen Selbstbestimmungsfähigkeit und in beiden Fällen bringt der Gesetzgeber die besondere Verwerflichkeit der Tat dadurch zum Ausdruck, dass er es im Grundsatz für erforderlich erachtet, bei Verstößen eine Freiheitsstrafe zu verhängen.

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 15.11

BVerwG 2 WD 15.11

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