Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 1. Juli 2020 – BVerwG 2 WD 15.19

Leitsatz:

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und das grundrechtsgleiche passive Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) reduzieren in Verbindung mit dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) die Mäßigungspflicht nach § 10 Abs. 6 SG, wenn sich ein Offizier als nominierter Kandidat für eine Partei im Wahlkampf polemisch äußert ohne zugleich gegen die Pflicht zur Verfassungstreue (§ 8 SG) zu verstoßen.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Inhalt der Zurückhaltungspflicht im Sinne des § 10 VI SG (Rn. 14)

 Die Vorschrift verlangt von einem Unteroffizier und Offizier, bei seinen Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzter zu erhalten. Denn Vorgesetzte brauchen das Vertrauen der Soldaten, die sie führen. Sie sollen ihren Soldaten auch durch Besonnenheit, Offenheit und sachliches Urteil ein Vorbild sein. Intolerantes Auftreten ist damit unvereinbar. Der Sinn der Vorschrift ist es regelmäßig nicht, bestimmte Meinungsäußerungen wegen ihres Inhalts zu verbieten. Den Vorgesetzten bleibt es unbenommen, ihre Meinung frei zu äußern. Sie müssen ihren Standpunkt aber zum Erhalt ihrer Autorität als Vorgesetzte besonnen, tolerant und sachlich vertreten (BVerfG, Beschluss vom 18. Februar 1970 – 2 BvR 531/68 – BVerfGE 28, 36 <47>; BVerwG, Beschluss vom 9. Oktober 2019 – 2 WDB 3.19 – juris Rn. 19).

Geltung des Mäßigungsgebots im Wahlkampf (Rn. 23 f.)

Das Mäßigungsgebot gilt grundsätzlich auch im Wahlkampf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 1998 – 2 B 85.98 – Buchholz 11 Art. 38 GG Nr. 4). Das gilt auch für sonstige Pflichten wie das Gebot der Verfassungstreue nach § 8 SG (vgl. BVerwG, Urteile vom 10. Mai 1984 – 1 D 7.83 – BVerwGE 76, 157 <163> und vom 1. Februar 1989 – 1 D 2.86 – BVerwGE 86, 99 <115> für Beamte). Denn die Pflichten aus dem Dienstverhältnis ruhen nach § 25 Abs. 2 SG i.V.m. § 5 Abs. 1 AbgG erst im Fall der tatsächlichen Wahl zum Landtagsabgeordneten während der Mitgliedschaft im Landtag. Allerdings haben Soldaten gemäß § 6 Satz 1 SG grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie jeder andere Staatsbürger und können sich auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG berufen. § 10 Abs. 6 SG schränkt zwar als allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsäußerungsfreiheit zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr (Art. 17a Abs. 1 GG) ein (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. April 2007 – 2 BvR 71/07 – BVerfGK 11, 82 <86 f.>). Zwischen Grundrechtsschutz und Grundrechtsschranken besteht aber eine Wechselwirkung. Gesetzliche Regelungen, die die Meinungsfreiheit beschränken, sind aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung der Meinungsfreiheit ihrerseits wieder einschränkend auszulegen (vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Januar 1958 – 1 BvR 400/51 – BVerfGE 7, 198 <208 f.>, Beschluss vom 4. November 2009 – 1 BvR 2150/08 – BVerfGE 124, 300 <332, 342>).

Die sogenannte „Wechselwirkungstheorie“ verlangt mithin eine einzelfallbezogene „Rückvermittlung des grundrechtsbegrenzenden Gesetzes an das beschränkte, aber gleichwohl höherrangige Grundrecht“ (Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873 <874>). Es muss im konkreten Einzelfall geprüft werden, ob in der jeweiligen Situation bei Abwägung der geschützten Rechtsgüter das grundrechtlich geschützte Interesse des Soldaten an einer auch in der Form des Auftretens freieren Rede gegenüber dem für Zurückhaltung sprechenden dienstlichen Interesse an der Erhaltung der Autorität als militärischer Vorgesetzter überwiegt. Dies bedeutet insbesondere bei außerdienstlichen Meinungsäußerungen, dass das Zurückhaltungsgebot des § 10 Abs. 6 SG umso mehr zurücktreten muss, je weniger ein Soldat in der konkreten Situation als militärischer Vorgesetzter in Erscheinung tritt, je geringer die dienstlichen Bezüge einer Meinungsäußerung sind und je mehr ein Bedürfnis nach einer spontanen, in der Ausdrucksform scharfen oder auch persönlich werdenden Kritik anzuerkennen ist.

Wahlkampfauftritte eines Soldaten im Lichte des Zurückhaltungsgebotes (Rn. 25 ff.)

Nach diesen Maßstäben ist bei Wahlkampfauftritten eines von einer Partei als Spitzenkandidat nominierten Soldaten dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG durch eine einschränkende Auslegung des § 10 Abs. 6 SG Rechnung zu tragen. Bewirbt sich ein Soldat – wie hier – um ein Landtagsmandat, tritt er nicht in der Rolle eines militärischen Vorgesetzten, sondern als Repräsentant einer politischen Partei auf. Er spricht nicht vor einem spezifisch militärischen Publikum und äußert sich typischerweise zu aktuellen politischen Themen. Auch ein soldatischer Wahlbewerber steht im Wettbewerb mit Kandidaten anderer Parteien und hat aus Gründen der Chancengleichheit im Wahlkampf ein anerkennenswertes Interesse daran, nicht nur zurückhaltend und sachlich aufzutreten, sondern auch kämpferische Worte zu wählen, politische Gegner persönlich anzugreifen und von den Mitteln der Wahlkampfrhetorik Gebrauch zu machen.

Im Wahlkampf macht ein als Spitzenkandidat nominierter Wahlbewerber von seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht ausschließlich zur Entfaltung seiner Persönlichkeit Gebrauch, sondern auch zur Verwirklichung seines grundrechtsgleichen passiven Wahlrechts, d.h. „sich um ein Mandat zu bewerben, sich als Kandidat aufstellen zu lassen, gewählt werden zu können und die Wahl anzunehmen“ (vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2018, Art. 137 Rn. 16; Bonner Kommentar, GG, Stand Mai 2004, Art. 137 Rn. 244). Diese Rechte stehen auch Soldaten zu. Der Gesetzgeber hat von der in Art. 137 Abs. 1 GG vorgesehenen Möglichkeit der Beschränkung der Wählbarkeit von Berufssoldaten nur in Form von Inkompatibilitätsregelungen (vgl. § 25 Abs. 2 SG i.V.m. § 5 AbgG) Gebrauch gemacht, die Wählbarkeit von Angehörigen des öffentlichen Dienstes aber nicht von vornherein durch Ineligibilitätsvorschriften ausgeschlossen. Ob er dazu befugt gewesen wäre, kann dahingestellt bleiben (zum Meinungsstand: Bonner Kommentar, GG, Stand Mai 2004, Art. 137 Rn. 251; BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2017 – 10 C 2.16 – BVerwGE 159, 113 Rn. 27). Jedenfalls hat er damit in Kauf genommen, dass auch Soldaten für Parlamente kandidieren und in einen Wahlkampf eintreten.

Ein zu diesem Zweck geführter Wahlkampf ist darauf angelegt, Wählerstimmen zu gewinnen. Er lebt von rhetorischen Zuspitzungen und pointierter Kritik an der politischen Handhabung aktueller Probleme, um auf diese Weise die für die eigene Wahl erforderliche Zustimmung der Wähler nicht nur durch die Kraft von Argumenten, sondern auch durch die Kraft von Worten zu erzielen. Da sich in einem Wahlkampf Lager bilden, die um die Mehrheit ringen, sind Wahlkampfreden oft auch durch Polemik und persönliche Attacken auf Vertreter des jeweils anderen Lagers gekennzeichnet, um auf diese Weise die für die eigene Wahl erforderliche Zustimmung bei den Wählern zu gewinnen. Wenn ein Soldat – wie vorliegend – für eine Oppositionspartei kandidiert, stehen die notwendige politische Offensive und die amtsgebundene Defensive (Mäßigung) in einem zusätzlichen Spannungsverhältnis (vgl. Scherer/Alff/Poretschkin/Lucks, SG, 10. Aufl. 2018, § 28 Rn. 29). Zudem richten sich Äußerungen von Kandidaten einer Oppositionspartei zwangsläufig gegen Politiker, die Inhaber eines Regierungsamts sind und in dieser Eigenschaft den Dienstherrn repräsentieren. Diese Besonderheiten der Wahlkampfsituation kann sich ein auch soldatischer Wahlbewerber nicht entziehen. Sie verlangt, seine Mäßigungspflichten zu reduzieren, bildet die Wahl doch die „Quelle der Staatsgewalt“ (BVerfG, Urteil vom 30. Juni 2009 – 2 BvE 2/08 u.a. – BVerfGE 123, 267 <340>).

Dies bedeutet, dass von einer Partei für die Wahl zu einer gesetzgebenden Körperschaft nominierte Soldaten im Wahlkampf bei ihren allgemeinpolitischen Äußerungen weitgehend im gleichen Umfang vom Recht der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG Gebrauch machen können wie andere Wahlkampfkandidaten. Das Zurückhaltungsgebot des § 10 Abs. 6 SG verpflichtet sie nicht, Kritik an Regierungsmitgliedern nur besonnen, sachlich und tolerant zu formulieren. Nur in dem Maße, wie allgemeine Gesetze zum Schutz der Ehre nach Art. 5 Abs. 2 GG Schmähkritik, Formalbeleidigungen oder Verleumdungen verbieten (§§ 185 ff. StGB), ist dies auch soldatischen Bewerbern untersagt. Zudem fordert der Schutzzweck des § 10 Abs. 6 SG auch im Wahlkampf Mäßigung bei Themen, die die berufliche Stellung als Soldat und den militärischen Bereich berühren. Ein Offizier darf auch im Wahlkampf nicht durch unbedachte oder unsachliche Bemerkungen über die ihm unterstellten Soldaten, seine Kameraden oder militärische Vorgesetzte seine Autorität als Vorgesetzter beeinträchtigen. Zwar darf er Kritik an der Verteidigungspolitik üben (BVerwG, Beschluss vom 12. April 1978 – 2 WDB 24.77 – BVerwGE 63, 37 <40 f.>). Äußerungen im Wahlkampf sind insbesondere dann nicht mehr mit dem Mäßigungsgebot nach § 10 Abs. 6 SG vereinbar, wenn sie ernsthafte Zweifel an der Loyalität eines Soldaten gegenüber seinem Dienstherrn erwecken und den Eindruck entstehen lassen, der Soldat werde den dienstlichen Anordnungen seiner Vorgesetzten keine Folge leisten. Das Vertrauen in einen Soldaten als Vorgesetzten setzt voraus, dass auch er selbst im Rahmen des gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 SG durch Befehl und Gehorsam geprägten Dienstbereichs die Vorgesetzteneigenschaft höherer Vorgesetzter anerkennt und respektiert.

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 15.19

BVerwG 2 WD 15.19
TDG Süd 4. Kammer – 12.03.2019 – AZ: TDG S 4 VL 4/18

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