Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 3. Juni 2021 – BVerwG 2 WD 18.20
Leitsatz:
- Auch in Fällen eines sexuellen Missbrauchs eines Kindes ohne körperliche Berührung bildet in disziplinarischer Hinsicht die Höchstmaßnahme den Ausgangspunkt
der Zumessungserwägungen. - Wird die unangemessene Dauer eines Wehrdisziplinarverfahrens als Milderungsgrund geltend gemacht, ist für die Berechnung der Verfahrensdauer der Zeitpunkt
des Beginns des Disziplinarverfahrens maßgeblich. Auf die vorherige Kenntnis der
Strafverfolgungsbehörden kommt es nicht an.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:
Abmilderung einer Disziplinarmaßnahme bei Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft (Rn. 12)
Eine Abmilderung der vom Truppendienstgericht verhängten Disziplinarmaßnahme ist möglich; gemäß § 123 Satz 3, § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 301 StPO zulässig (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juni 2020 – 2 WD 17.19 – BVerwGE 168, 323 <324> Rn. 13 m.w.N.).
Regelmaßnahme bei sexuellem Missbrauch von Kindern (Rn. 16, 17)
In Fällen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes durch einen Soldaten ist nach der Rechtsprechung des Senats im Regelfall die Höchstmaßnahme geboten, weil der Soldat dadurch im Grundsatz für die Bundeswehr untragbar wird. Der sexuelle Missbrauch eines Kindes ist in hohem Maße persönlichkeits- und sozialschädlich. Der Täter greift damit in die sittliche Entwicklung eines jungen Menschen ein. Er gefährdet die harmonische Entwicklung von dessen Gesamtpersönlichkeit und Einordnung in die Gemeinschaft, weil ein Kind wegen seiner fehlenden bzw. noch nicht hinreichenden Reife intellektuell und gefühlsmäßig das Erlebte in der Regel gar nicht oder nur schwer verarbeiten kann. Zugleich benutzt der Täter das Kind als „Mittel“ zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs und verletzt dadurch dessen grundgesetzlich geschützte unantastbare Menschenwürde (vgl. BVerwG, Urteil vom 2. Mai 2019 – 2 WD 15.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 63 Rn. 21 m.w.N.). Da ein Soldat als Teil der staatlichen Gewalt die Würde des Menschen zu achten und zu schützen hat (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) und gerade Schwächere schützen und verteidigen soll, erschüttert er durch den sexuellen Missbrauch eines Kindes zutiefst das Vertrauen, das der Dienstherr in die Selbstbeherrschung, Zuverlässigkeit und moralische Integrität eines Soldaten setzt. Dies führt in der Regel zu einem endgültigen Vertrauensverlust seines Dienstherrn, so dass diesem bei objektiver Betrachtung eine Fortsetzung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juni 2020 – 2 WD 10.19 – NVwZ-RR 2020, 983 Rn. 21 m.w.N.).
Dieser Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen gilt in allen Fällen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes, nicht nur bei einem Missbrauch mit Körperkontakt im Sinne des § 176 Abs. 1 StGB 2008, sondern auch bei einem Missbrauch ohne Körperkontakt im Sinne des § 176 Abs. 4 Nr. 4 StGB 2008 (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2013 – 2 WD 15.11 – juris Rn. 39 zu § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB 2008). Zwar sieht § 176 StGB 2008 für die in Absatz 4 aufgeführten Straftaten einen geringeren Strafrahmen (Freiheitsstrafe von drei Monaten bis fünf Jahren) vor als für die in Absatz 1 genannten Straftaten (Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren). Der Aufnahme dieser Taten in den Missbrauchstatbestand des § 176 StGB 2008 liegt jedoch die Erkenntnis zu Grunde, dass auch das sexuell motivierte Nachstellen eines Erwachsenen ohne Körperkontakt die psychische Entwicklung eines Kindes massiv beeinträchtigen kann und dass ohne Androhung einer Strafe für eindeutige Vorfeldhandlungen der Schutz von Kindern vor körperlichen Übergriffen lückenhaft wäre (vgl. BT-Drs. 6/3521 S. 37 f., BGH, Beschluss vom 21. April 2009 – 1 StR 105/09 – BGHSt 53, 283 = juris Rn. 8). Die strafrechtliche Einordnung solcher Taten als Kindesmissbrauch ist auch für die nachfolgende disziplinarrechtliche Würdigung des außerdienstlichen Verhaltens eines Soldaten von erheblicher Bedeutung und spricht dafür, auch in den Fällen des § 176 Abs. 4 StGB 2008 die Höchstmaßnahme zum Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen zu bestimmen. In disziplinarischer Hinsicht ist maßgebend, dass der betreffende Soldat jeweils dasselbe Schutzgut – die Möglichkeit des Kindes zur freien Entwicklung seiner sexuellen Selbstbestimmungsfähigkeit – verletzt und es zum Objekt seines eigenen Sexualverhaltens macht, obwohl er als Teil der staatlichen Gewalt die Würde des Kindes zu achten und zu schützen hat.
Maßgeblicher Zeitpunkt bei Berechnung der Dauer des Disziplinarverfahrens (Rn. 32, 33, 34, 38)
Nach der Senatsrechtsprechung ist in Fällen, in denen – wie hier – die Höchstmaßnahme ausscheidet und deshalb eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme geboten ist, eine gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK und Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verstoßende unangemessene Verfahrensdauer bei der Bestimmung der Disziplinarmaßnahme aus Gründen der Verhältnismäßigkeit mildernd zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. September 2020 – 2 WD 18.19 – juris Rn. 75 m.w.N. und Beschluss vom 17. April 2020 – 2 B 3.20 – Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 73 Rn. 19 m.w.N. für das Beamtendisziplinarrecht).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kann der für die Verfahrensdauer maßgebliche Zeitraum bereits vor dem Gerichtsverfahren beginnen und ein behördliches Vorschaltverfahren umfassen (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Juni 1978 – 6232/73, König/Deutschland – NJW 1979, 477 Rn. 98, vom 20. Dezember 2001 – 23959/94, Janssen/Deutschland – hudoc Rn. 40, vom 16. Juli 2009 – 8453/04, Bayer/Deutschland – NVwZ 2010, 1015 Rn. 44 und vom 15. Juli 2010 – 9143/08, Sikic/Kroatien – hudoc Rn. 33).
Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist anhand der Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Schwierigkeit der Rechtssache, des Verhaltens der Verfahrensbeteiligten und der zuständigen Behörden und Gerichte sowie Bedeutung des Rechtsstreits zu beurteilen (vgl. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG; EGMR, Entscheidung vom 29. Juni 2010 – 29035/06, Bauer/Deutschland – juris Rn. 55 m.w.N.). Verfahrensverzögerungen, die ein Beteiligter selbst zu verantworten hat, begründen in der Regel keine unangemessene Verfahrensdauer. Umgekehrt kann sich der Staat nicht auf solche Umstände berufen, die in seinem Verantwortungsbereich liegen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. März 2018 – 2 BvR 289/10 – Vz 10/16 – juris Rn. 9 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 14. Mai 2020 – 2 WD 12.19 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 76 Rn. 25).
(…)
Die durch die versäumte Mitteilung der Staatsanwaltschaft eingetretene Verzögerung ist aber bei der Dauer des Disziplinarverfahrens nicht zu Gunsten des früheren Soldaten zu berücksichtigen. Es kann dahinstehen, ob dies bereits daraus folgt, dass das an das Strafverfahren geknüpfte Mitteilungsverfahren und das Disziplinarverfahren jeweils selbstständig sind (dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2007 – 1 BvR 2536/07 – BVerfGK 13, 58 Rn. 12 f.). Jedenfalls hätte der frühere Soldat nach § 95 Abs. 1 Satz 1 WDO die Möglichkeit gehabt, von sich aus die Einleitung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens zu beantragen. Auf einen solchen Antrag hin hätte die Einleitungsbehörde Vorermittlungen durchführen müssen. Zwar war der frühere Soldat zu einem solchen Antrag nicht verpflichtet, weil er sich nicht selbst belasten musste. Jedoch wurde die späte Aufnahme der Vorermittlungen wegen der versäumten Stellung eines solchen Antrags (auch) von ihm selbst verursacht. Sie scheidet damit als Grundlage einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung aus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2007 – 1 BvR 2536/07 – BVerfGK 13, 58 Rn. 16).
Volltextveröffentlichung der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 18.20
BVerwG 2 WD 18.20
TDG Nord 4. Kammer – 20.02.2020 – AZ: TDG N 4 VL 41/17