Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 18. Juli 2019 – BVerwG 2 WD 19.18

Leitsätze:

1. Verfehlungen heranwachsender Soldaten können disziplinarrechtlich milder beurteilt werden, wenn sie im Sinne des § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG von jugendlicher Unreife geprägt sind.

2. Die überlange Dauer des Einleitungsverfahrens verletzt Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK und ist disziplinarrechtlich durch eine Maßnahmemilderung auszugleichen.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Disziplinarrechtliche Einordnung des Fernbleibens vom Dienst (Rn. 21 f.)

Durch sein Fernbleiben vom Dienst hat er die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG) verletzt. Mit der eigenmächtigen Abwesenheit hat er zugleich nach § 15 Abs. 1 WStG eine Straftat verwirklicht. Diese Wehrstraftat setzt als zweiaktiges Delikt tatbestandlich voraus, dass ein Soldat zuerst eigenmächtig seiner Truppe fernbleibt und anschließend vorsätzlich oder fahrlässig länger als drei volle Kalendertage abwesend ist. Im vorliegenden Fall ist es unzweifelhaft, dass der Soldat vorsätzlich am 1. September 2014 seiner Truppe, der 3./Logistikbataillon 142, fernblieb und dabei eigenmächtig, das heißt ohne die erforderliche Genehmigung seiner Vorgesetzten, handelte. Er war am 1. September 2014 weder wegen Urlaubs noch aufgrund einer Erkrankung vom Dienst befreit. Der Soldat war auch im Anschluss länger als drei volle Kalendertage abwesend von der Truppe. Seine Abwesenheit endete erst, als er am 15. September 2014 um 07:00 Uhr seinen regulären Dienst wieder antrat.

Für die Dauer der Abwesenheit stellt das Wehrstrafgesetz auf volle Kalendertage ab. Mit dem Abwesendsein ist der Zustand der räumlichen Lösung von der Truppe und der Verfügungsgewalt ihres Befehlshabers gemeint (vgl. Lingens/Korte, WStG, 5. Aufl. 2012, § 15 Rn. 15). Dabei kommt es für die Dauer der Abwesenheit nicht auf die entgangene Dienstzeit an. Die Norm unterscheidet nach ihrem Wortlaut nicht zwischen Tagen mit Dienstbetrieb und dienstfreien Tagen oder zwischen Werk- und Feiertagen. Sie zählt die vollen Kalendertage, in denen der Soldat sein Unterstellungsverhältnis zur Truppe durch das eigenmächtige Fernbleiben gelöst hat. Demzufolge ist es – anders als das Truppendienstgericht meint – nicht möglich, Samstage und Sonntage generell bei der Frist unberücksichtigt zu lassen. Denn die strafbare Lösung aus dem Truppenverband dauert jedenfalls in den von der Abwesenheit eingeschlossenen Feiertagen und Wochenenden an (BayObLG, Urteil vom 17. August 1982 – RReg 4 St 83/82 – NZWehrr 1982, 231 <233 f.>).

Regelmaßnahme bei Abwesenheit vom Dienst (Rn. 30)

Auf der ersten Stufe bestimmt er im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als „Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen“. Dabei entspricht es der Rechtsprechung des Senats, dass bei einer einmaligen kürzeren Abwesenheit vom Dienst die Dienstgradherabsetzung den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet; bei länger andauerndem Fernbleiben, wiederholt eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht ist das Dienstvergehen so schwerwiegend, dass es regelmäßig die Entfernung aus dem Dienst oder den Ausspruch der sonst gebotenen Höchstmaßnahme indiziert (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2018 – 2 WD 8.18 – juris Rn. 37 m.w.N.). Dabei ist zur Abgrenzung der kürzeren von einer längeren Abwesenheit der Zeitraum herangezogen worden, der durch den regulären Jahresurlaub abgedeckt werden kann (BVerwG, Urteile vom 12. Februar 2015 – 2 WD 2.14 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 47 Rn. 55, vom 19. Mai 2015 – 2 WD 13.14 – juris Rn. 42 und vom 24. Januar 2018 – 2 WD 11.17 – juris Rn. 34). Im vorliegenden Fall ist jedoch selbst bei Anlegung eines strengeren Abgrenzungsmaßstabs von einer einmaligen kürzeren Abwesenheit auszugehen, so dass die Herabsetzung im Dienstgrad den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet.

Milderung durch faktisches Beförderungsverbot durch laufendes Disziplinarverfahren (Rn. 34)

Von der im Regelfall für die eigenmächtige Abwesenheit vorgesehenen Degradierung ist jedoch deswegen abzusehen, weil der Soldat bereits erhebliche Nachteile im beruflichen Fortkommen durch das faktische Beförderungsverbot des laufenden Verfahrens erlitten hat. Hierfür ist zwar nicht ausreichend, dass eine Beförderung während des Verfahrens nach den laufbahnrechtlichen Voraussetzungen möglich gewesen wäre; etwas anderes gilt jedoch dann, wenn eine konkret anstehende Beförderung durch das Disziplinarverfahren verhindert wurde (BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2018 – 2 WD 4.18 – juris Rn. 44 m.w.N.). Ein solcher Fall liegt nicht nur vor, wenn die Aushändigung einer bereits erstellten Beförderungsurkunde aktenkundig wegen des Disziplinarverfahrens unterbleibt. Er ist auch gegeben, wenn nach Bestehen einer beruflichen Prüfung regelmäßig eine Beförderung erfolgt und dies im konkreten Fall allein wegen des Disziplinarverfahrens entfällt. Dies kommt der Wirkung nach einer Degradierung im Verhältnis zu gleichaltrigen Kameraden derselben Ausbildungs- und Verwendungsreihe nahe und hat damit erhebliche pflichtenmahnende Wirkung.

Disziplinare Berücksichtigung der jugendlichen Unreife (Rn. 36 f.)

 Bei der Bemessung der nächstmilderen Maßnahme des Beförderungsverbots ist als gewichtiger Umstand zugunsten des Soldaten zu berücksichtigen, dass die Tat von jugendlicher Unreife geprägt war. Der Soldat war bei der Tatbegehung zwar 19 Jahre alt und damit volljährig. Es ist in der Rechtsordnung jedoch anerkannt, dass auch Heranwachsende in der Altersspanne von 18 bis 21 Jahren noch Jugendverfehlungen begehen können. § 105 Abs. 1 JGG sieht für solche Fälle eine mildere Strafe vor. Dies gilt auch für heranwachsende Soldaten, für die in den §§ 112a und 112d JGG eigene Verfahrensregeln vorgesehen sind. Es ist kein Grund ersichtlich, diesen Tatmilderungsgrund im Disziplinarrecht anders als im Strafrecht nicht zu berücksichtigen. Dabei kann bei heranwachsenden Soldaten eine mildere Disziplinarmaßnahme allerdings nur verhängt werden, wenn in dem angeschuldigten Tatgeschehen entweder personenbezogen (§ 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG analog) oder tatbezogen (§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG analog) eine jugendliche Unreife festzustellen ist. Denn nicht jedes im Alter zwischen 18 und 21 Jahren begangene Dienstvergehen kann auf mangelnde persönliche Reife zurückgeführt oder als Jugendverfehlung angesehen werden.

Im vorliegenden Fall ist zwar nicht erwiesen, dass der Soldat bei Tatbegehung allgemein noch im Sinne des § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG von jugendlicher Unreife geprägt war und dass bei dem damals 19-jährigen noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirkten. Eine entsprechende Stellungnahme eines Disziplinarvorgesetzten oder des Jugendamts liegt nicht vor. Jedoch weist die Tat ein jugendtypisches Gepräge auf. Eine Jugendverfehlung im Sinne des § 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG liegt vor, wenn unabhängig vom generellen Reifegrad des angeschuldigten Soldaten die konkrete Tat auf jugendlichen Leichtsinn, Unüberlegtheit oder soziale Unreife zurückgeht (BGH, Urteil vom 17. Oktober 2000 – 1 StR 261/00 – NStZ 2001, 102 <102>). Maßgeblich ist, ob die Tat nach ihrem äußeren Erscheinungsbild und den Beweggründen des Täters Merkmale jugendlicher Unreife aufweist (BGH, Urteil vom 12. März 2014 – 5 StR 18/14 – NStZ 2014, 408 <409>).

Maßnahmemilderung durch überlangen Zeitraum bis zur Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens (Rn. 43, 45)

Im vorliegenden Fall war jedoch bereits der Zeitraum bis zur Einleitung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens unangemessen lang und in diesem Verfahrensstadium stand dem Soldaten kein dem § 101 Abs. 1 WDO vergleichbarer Rechtsbehelf zur Verfügung. Ähnlich wie im Disziplinarverfahren der Beamten trifft die Einleitungsbehörde im Wehrdisziplinarrecht eine Einleitungspflicht, sobald zureichende Anhaltspunkte vorliegen, die den Verdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. November 2018 – 2 C 60.17 – NVwZ-RR 2019, 470 Rn. 21). Werden dem Wehrdisziplinaranwalt Tatsachen bekannt, welche die Verhängung einer gerichtlichen Disziplinarmaßnahme erwarten lassen, nimmt er nach § 92 Abs. 1 Satz 2 WDO Vorermittlungen auf und führt die Entscheidung der Einleitungsbehörde herbei. Maßgeblich für die Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens ist auch bei § 92 Abs. 3 WDO, ob zureichende Anhaltspunkte für den Anfangsverdacht eines schwerwiegenden Dienstvergehens vorliegen. Ist das der Fall, dürfen Einleitungsbehörde und Wehrdisziplinaranwaltschaft nicht die Vorermittlungen weiterführen, bis der Sachverhalt anschuldigungsreif aufgeklärt ist. Vielmehr haben sie das Verfahren einzuleiten und danach die noch nötigen weiteren Ermittlungen der Wehrdisziplinaranwaltschaft zugunsten und zulasten des Soldaten zu veranlassen. Ansonsten würde die gesetzliche Zweiteilung zwischen Einleitung des Verfahrens und Anschuldigung ebenso umgangen wie die verfahrensmäßige Sicherung einer beschleunigten Durchführung des vorgerichtlichen Verfahrens in § 101 Abs. 1 WDO. Dabei unterliegt auch die Zeitdauer der Prüfung, ob ein hinreichender Anfangsverdacht vorliegt, dem für das gesamte Disziplinarverfahren geltenden Beschleunigungsgebot des § 17 Abs. 1 WDO.

(…)

Dieser Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz des § 17 Abs. 1 WDO hatte zur Folge, dass der Soldat länger als nötig dem gerichtlichen Disziplinarverfahren ausgesetzt war. Zugleich wirkte sich die verspätete Einleitung des gerichtlichen Verfahrens nachteilig auf das von Art. 6 Abs. 1 EMRK und vom verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Rechtsschutzgewährung aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gewährleistete Recht des Betroffenen auf eine Verhandlung und Entscheidung in angemessener Zeit aus. Denn die unangemessene Verzögerung des zwingend einzuhaltenden vorgerichtlichen Verfahrens führte zugleich zu einer entsprechenden Verlängerung des gesamten gerichtlichen Disziplinarverfahrens und damit zu einer Verletzung dieser Verfahrensgarantie. Denn bei der Überprüfung der angemessenen Verfahrensdauer sind Zeiten eines gesetzlich vorgeschriebenen behördlichen Vorschaltverfahrens einzurechnen (vgl. EGMR, Urteile vom 28. Juni 1978 – 6232/73 – NJW 1979, 477 Rn. 98 und vom 16. Juli 2009 – 8453/04 – NVwZ 2010, 1015 Rn. 44).

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 19.18

BVerwG 2 WD 19.18
TDG Nord 6. Kammer – 21.03.2018 – AZ: TDG N 6 VL 32/17

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