Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 4. Juli 2019 – BVerwG 2 WD 20.18

Leitsatz:

Auch bei fahrlässigen Verstößen gegen Vorschriften, die speziell der Schießsicherheit dienen, bildet Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen eine Dienstgradherabsetzung.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Anforderungen an die Bestimmtheit der Anschuldigungsschrift (Rn. 25)

Gemäß § 123 Satz 3 i.V.m. § 107 Abs. 1 WDO dürfen zum Gegenstand der Urteilsfindung nur solche Pflichtverletzungen gemacht werden, die in der Anschuldigungsschrift dem Soldaten als Dienstvergehen zur Last gelegt worden sind. Die Anschuldigungsschrift muss dabei gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO die Tatsachen, in denen ein schuldhaftes Dienstvergehen erblickt wird, und die Beweismittel geordnet darstellen. Der dem Soldaten gegenüber erhobene Vorwurf muss in der Anschuldigungsschrift so deutlich und klar formuliert sein, dass dieser sich mit seiner Verteidigung darauf einstellen kann. Bei Zweifeln über Gegenstand und Umfang des zur Last gelegten Fehlverhaltens ist die Anschuldigungsschrift aus der Sicht des Empfängers, wie sie bei objektiver Betrachtungsweise zu verstehen ist, auszulegen. Verbleiben insoweit Zweifel, fehlt es an einer wirksamen Anschuldigung im Sinne des § 99 Abs. 1 WDO (vgl. BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2013 – 2 WD 1.12 – juris Rn. 30 m.w.N. und vom 20. März 2014 – 2 WD 5.13 – juris Rn. 35).

Anforderungen an die freie richterliche Beweiswürdigung (Rn. 31)

Nach § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 261 StPO hat das Gericht über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden. Dabei kommt es allein darauf an, ob der Tatrichter die persönliche Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht. Der Begriff der Überzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen, auch gegenteiligen Geschehensablaufes nicht aus; denn im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang verschlossen. Die für die Überführung eines Angeschuldigten erforderliche persönliche Gewissheit des Tatrichters erfordert ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen. Dabei ist – insbesondere bei einem Indizienbeweis – keine „mathematische“ Gewissheit erforderlich. Darum können rein abstrakte oder theoretische Zweifel, für die es keine reale Grundlage gibt, das für die Verurteilung nach der Lebenserfahrung ausreichende Maß an Sicherheit nicht in Frage stellen. Der Beweis muss jedoch mit lückenlosen, nachvollziehbaren logischen Argumenten geführt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. März 2019 – 2 WD 13.18 – juris Rn. 12 m.w.N.).

Abgrenzung von Tatbestands- zu Verbotsirrtum (Rn. 57)

Der Soldat handelte auch damit – was allein angeschuldigt worden ist – fahrlässig. Seine Einlassung, er habe angenommen, die Leitende habe von seinem Vorgehen wegen seines entsprechenden Verhaltens auch am Vortag gewusst und sei nicht eingeschritten, sodass er auch für den Folgetag eine Genehmigung angenommen habe, lässt seine Schuld nicht entfallen. Ein solcher Irrtum würde sich als Verbotsirrtum nach § 17 StGB und nicht als Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB darstellen. Die Abgrenzung, ob ein Irrtum über die Genehmigungsfähigkeit einen Tatbestands- oder Verbotsirrtum darstellt, nimmt der Senat danach vor, ob die Tat ihren Unwert nur aus dem Fehlen der Genehmigung eines im allgemeinen sozialadäquaten Verhaltens herleitet – dann Tatbestandsirrtum – oder ob es sich um ein grundsätzlich wertwidriges Verhalten handelt, das im Einzelfall nur aufgrund einer Genehmigung erlaubt ist – dann Verbotsirrtum -. Nach Maßgabe dessen lag beim Soldaten ein Verbotsirrtum vor, weil kein Zweifel daran bestand, dass der Sicherheitsoffizier – so ausdrücklich auch Nr. 623 Satz 1 der ZDv 44/10 – während des Schießens keine anderen Aufgaben wahrnehmen darf.

Frage der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums (Rn. 58 f.)

Die damit aufgeworfene Frage nach der Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums ist auch rechtlich von Bedeutung, weil nur bei einem unvermeidbaren Irrtum die Schuld als Element, das den Tatbestand des Dienstvergehens konstituiert entfällt, während bei einem vermeidbaren Irrtum der Tatbestand eines Dienstvergehens unberührt bleibt und er lediglich beim „Maß der Schuld“ (§ 38 Abs. 1 WDO) Berücksichtigung finden kann (vgl. zu allem: BVerwG, Urteil vom 13. September 2011 – 2 WD 15.10 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 33 Rn. 34).

Ob ein Verbotsirrtum vermeidbar oder unvermeidbar war, bestimmt sich nach der vom Soldaten nach seiner Amtsstellung (Status, Dienstposten) und seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten (Vorbildung, dienstlicher Werdegang) zu fordernden Sorgfalt unter Berücksichtigung ihm zugänglicher Informationsmöglichkeiten. Das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit setzt dabei in der Regel keine juristisch genaue Kenntnis der verletzten Rechtsvorschriften und Verwaltungsanordnungen voraus. Es genügt, wenn der Soldat Umfang und Inhalt seiner auf diese Regelungen beruhenden Dienstpflichten im weitesten Sinne erfasst. Davon ist im Regelfall aufgrund der Ausbildung des Soldaten auszugehen. Im Zweifel wird von einem Soldaten erwartet, dass er sich bei seiner Dienststelle rechtzeitig über Umfang und Inhalt seiner Dienstpflichten erkundigt. Dies gilt vorliegend vor allem deshalb, als der Soldat zum einen gemäß Nr. 627 der ZDv 44/10 ausdrücklich verpflichtet war, die Sicherheitsbestimmungen dieser Dienstvorschrift zu kennen, und zum anderen die nach Satz 2 der Nr. 623 ZDv 44/10 bestehenden Ausnahmen ersichtlich abschließend waren.

Regelmaßnahme bei fahrlässigen Verstößen gegen Vorschriften, die speziell Schießsicherheit betreffen (Rn. 61)

Auf der ersten Stufe bestimmt er im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als „Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen“. Danach bildet bei Verstößen gegen die hier im Zentrum der Würdigung stehende Gehorsamspflicht – je nach Schwere des Verstoßes – eine Gehaltskürzung, ein Beförderungsverbot oder auch eine Dienstgradherabsetzung den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen, wobei bei einer Kombination von Pflichtverletzungen den Umständen des Falles auf der zweiten Stufe der Zumessungserwägungen Rechnung getragen wird. Dabei hat der Senat das disziplinare Gewicht eines Ungehorsams umso höher eingestuft, je größer die dadurch drohenden Gefahren für ein bedeutsames Rechtsgut, insbesondere Leib und Leben von Kameraden, sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juni 2016 – 2 WD 2.16 – juris Rn. 43 m.w.N.). Vor diesem Hintergrund hat der Senat schon bei fahrlässigen Verletzungen von Sorgfaltspflichten nur im Umgang mit Munition ein Beförderungsverbot zum Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen genommen (BVerwG, Urteil vom 19. Mai 2016 – 2 WD 13.15 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 51 Rn. 61). Bei fahrlässigen Verstößen gegen Vorschriften, die speziell die Schießsicherheit und damit Leib und Leben von Menschen und somit Rechtswerte mit Verfassungsrang betreffen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), bildet Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen somit eine Dienstgradherabsetzung (§ 58 Abs. 1 Nr. 4, § 62 WDO).

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 20.18

BVerwG 2 WD 20.18
TDG Nord 2. Kammer – 15.03.2018 – AZ: TDG N 2 VL 1/17

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