Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 19. Juni 2019 – BVerwG 2 WD 21.18
Leitsätze:
1. Ist eine außerdienstliche Pflichtverletzung eines Soldaten strafrechtlich bereits verjährt, spricht dies in disziplinarrechtlicher Hinsicht regelmäßig für einen minderschweren Fall.
2. Bei alkoholbedingter Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nach § 21 StGB ist regelmäßig auf eine mildere Maßnahme zu erkennen, wenn dem Alkoholkonsum eine Suchterkrankung zugrunde liegt.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:
Regelmaßnahme beim Besitz von kinder- und jugendpornographischer Dateien (Rn. 24 ff.)
Auf der ersten Stufe bestimmt er im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als „Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen“. Dabei entspricht es der Rechtsprechung des Senats, dass im Hinblick auf die Schwere und die disziplinare Einstufung von Fehlverhalten, das den Besitz kinder- und jugendpornographischer Dateien zum Gegenstand hat, Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen eine nach außen sichtbare Disziplinarmaßnahme bildet. Sie besteht regelmäßig in einer Herabsetzung im Dienstgrad (BVerwG, Urteil vom 5. Juli 2018 – 2 WD 10.18 – Rn. 39 m.w.N.).
Der Gesetzgeber hat die Besitzverschaffung und den Besitz kinder- und jugendpornographischer Darstellungen in § 184b Abs. 4 und § 184c Abs. 4 StGB 2008 unter Strafe gestellt, um das Schaffen und Aufrechterhalten eines Marktes mit kinderpornographischen Darstellungen schon im Ansatz zu verhindern. Er hat den „Konsumenten“ von Kinderpornographie damit den Kampf angesagt und sein Unwerturteil über den Besitz kinderpornographischer Darstellungen ausgedrückt. Kinderpornographische Darstellungen machen die kindlichen „Darsteller“ zum bloßen Objekt geschlechtlicher Begierde oder Erregung und verstoßen gegen die unantastbare Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG. Der darin liegende sexuelle Missbrauch eines Kindes oder Jugendlichen ist in hohem Maße persönlichkeits- und sozialschädlich, greift in die sittliche Entwicklung eines jungen Menschen ein und gefährdet die harmonische Entwicklung seiner Gesamtpersönlichkeit sowie seine Einordnung in die Gemeinschaft, da das Kind bzw. der Jugendliche wegen seiner fehlenden bzw. noch nicht hinreichenden Reife intellektuell und gefühlsmäßig das Erlebte in der Regel gar nicht oder nur schwer verarbeiten kann (BVerwG, Urteil vom 2. Mai 2012 – 2 WD 14.11 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 36 Rn. 21).
Kommt zu dem Besitz kinderpornographischer Dateien ein Verbreiten, ein Verschaffen oder ein Zugänglichmachen für Dritte hinzu, sieht § 184b Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 StGB 2004 mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren eine deutlich höhere Sanktion vor. Denn die aktive Beteiligung am kinderpornographischen Marktgeschehen als Anbieter stellt im Regelfall ein wesentlich höheres Unrecht dar als die eher passive Beteiligung als nachfragender Konsument. Diese strafrechtliche Wertung ist auch für die disziplinarrechtliche Würdigung leitend. Die Orientierung am gesetzlichen Strafrahmen gewährleistet eine nachvollziehbare und gleichmäßige disziplinarische Ahndung. Sie verhindert, dass die Wehrdienstgerichte ihre jeweils eigene Einschätzung des Unwertgehalts eines Delikts oder die Einschätzung der Wehrdisziplinaranwaltschaft an die Stelle der Bewertung des Gesetzgebers setzen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. April 2019 – 2 B 32.18 – juris Rn. 16). Im Fall des Verbreitens, Verschaffens und Zugänglichmachens wird das Fehlverhalten so gravierend, dass der Soldat im Allgemeinen für die Bundeswehr untragbar wird und dass er nur in minderschweren Fällen oder bei Vorliegen besonderer Milderungsgründe in seinem Dienstverhältnis verbleiben kann. Der höhere Sanktionsrahmen greift beim Zugänglichmachen auch, wenn ein tatsächlicher Zugriff eines Dritten – wie vorliegend – nicht festgestellt worden ist (BVerwG, Urteile vom 2. Mai 2012 – 2 WD 14.11 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 36 Rn. 37 und vom 5. Juli 2018 – 2 WD 10.18 – Rn. 39). Damit bildet die Entfernung aus dem Dienstverhältnis hier den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen.
Bedeutung des Zeitablaufs bei der Gewichtung der Schwere einer Pflichtverletzung (Rn. 30)
Allerdings bedeutet dies nicht, dass dem Zeitablauf bei der Gewichtung der Schwere einer Pflichtverletzung keine Bedeutung zukommt. Insbesondere bei außerdienstlichen Dienstvergehen, die sich nicht gegen den Dienstherrn richten und in der Verletzung allgemeiner Strafrechtsnormen erschöpfen, besteht im Allgemeinen kein Grund dafür, einen strafrechtlich erheblichen längeren Zeitablauf nicht auch disziplinarrechtlich mildernd zu berücksichtigen. Mit zunehmendem Zeitablauf lässt in der Regel die Notwendigkeit nach, das Geschehen aus individual- oder generalpräventiven Gründen zur Aufrechterhaltung des Ansehens, der Integrität oder der Disziplin in der Bundeswehr zu ahnden. Da hier keine besonderen Umstände vorliegen, ist mildernd zu berücksichtigen, dass der zur Maßnahmeverschärfung führende Verbreitungstatbestand strafrechtlich verjährt ist und mehr als neun Jahre zurückliegt.
Anforderungen an den Grundsatz „in dubio pro reo“ im Hinblick auf entlastende Umstände (Rn. 32)
Die Annahme einer durch eine krankhafte seelische Störung eingeschränkten Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB kann jedoch nicht schon mangels sicheren Nachweises abgelehnt werden. Denn entlastende Umstände sind nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ schon dann beachtlich, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen gegeben sind und eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht möglich ist. Lässt sich nach erschöpfender Sachaufklärung ohne vernünftigen Zweifel ein Sachverhalt nicht ausschließen, der eine erheblich verminderte oder ausgeschlossene Schuldfähigkeit ergibt, ist dieser Gesichtspunkt zugunsten des Soldaten in die Gesamtwürdigung einzustellen (BVerwG, Urteile vom 12. März 2015 – 2 WD 3.14 – juris Rn. 69 und vom 19. Mai 2016 – 2 WD 13.15 – juris Rn. 44).
Maßnahmemilderung aufgrund einer überlangen Verfahrensdauer (Rn. 39)
Zusätzlich maßnahmereduzierend wirkt hier die unangemessene Dauer des Gerichtsverfahrens. Ein Verstoß gegen die Gewährleistung einer Verhandlung in angemessener Frist nach Art. 6 Abs. 1 EMRK und gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Rechtsschutzgewährung aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG ist bei pflichtenmahnenden Disziplinarmaßnahmen durch eine Verringerung des Disziplinarmaßes auszugleichen. Dabei ist es eine Frage der Umstände des Einzelfalls, ob die Dauer unter Berücksichtigung der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten angemessen gewesen ist. Diese Prüfung ist ohne konkrete Zeitvorgaben oder abstrakte Orientierungswerte durchzuführen. Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur dann zu einer unangemessenen Verfahrenslänge, wenn sie auch bei Berücksichtigung des von Art. 97 Abs. 1 GG geschützten gerichtlichen Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 14. September 2017 – 2 WA 1.17 D – BVerwGE 159, 366 Rn. 13 ff. und vom 12. Juli 2018 – 2 WD 1.18 – juris Rn. 42).
Volltextveröffentlichung der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 21.18
BVerwG 2 WD 21.18
TDG Nord 6. Kammer – 28.05.2018 – AZ: TDG N 6 VL 12/16