Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 28. August 2018 – BVerwG 2 WD 28.18
Leitsatz:
Verletzt ein in der Materialbewirtschaftung eingesetzter Soldat in Vorgesetztenstellung grob fahrlässig die Pflicht, das Vermögen des Dienstherrn zu schützen, erscheint eine Bezügekürzung als Regelmaßnahme angemessen.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:
Anwendbares Recht bei Eigentumsübertragungen bei Feldlagern der Bundeswehr im Ausland (Rn. 30)
Der Eigentumsübergang richtet sich im vorliegenden Fall nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch. Welches Recht auf einen Sachverhalt mit Auslandsbezug anwendbar ist, entscheiden die deutschen Gerichte nach deutschem internationalem Privatrecht (vgl. BGH, Urteile vom 22. Februar 2010 – II ZR 286/07 – juris Rn. 20 und – II ZR 287/07 – juris Rn. 20). Nach Art. 43 Abs. 1 EGBGB unterliegen zwar Rechte an einer Sache dem Recht des Staates, in dem sich die Sache befindet, hier dem heimischen Recht. Besteht aber mit dem Recht eines Staates eine wesentlich engere Verbindung, ist nach Art. 46 EGBGB ausnahmsweise dessen Recht anzuwenden. Hier besteht eine wesentlich engere Verbindung zum deutschen Recht. Denn die genannten Gegenstände wurden von Soldaten der Bundeswehr privat angeschafft, von ihnen im deutschen Feldlager 2 genutzt und bei der Auflösung dieses Feldlagers von ihnen dort zurückgelassen. Sämtliche Personen, die über die weitere Handhabung der Gegenstände bestimmten, gehörten ebenfalls der Bundeswehr an, hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland und hielten sich im Rahmen einer besonderen Auslandsverwendung – der Beteiligung am ISAF-Einsatz – nur vorübergehend im Ausland auf. Das heimische Transportunternehmen, das die Gegenstände in das Feldlager 1 überführte, handelte in Erfüllung eines von dinglichen Rechten an den Gegenständen losgelösten Transportauftrags. Diese Konstellation ist so zu behandeln wie der Anwendungsfall des Art. 46 EGBGB, dass Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in demselben Staat haben, auf einer gemeinsamen Auslandsreise gruppenintern über ins Ausland mitgenommene Sachen verfügen und dabei Interessen Dritter vor Ort offenkundig nicht berührt sind (dazu Spickhoff, in: BeckOK BGB, Bamberger/Roth/Hau/Poseck, Stand: 1.8.2019, Art. 43 Rn. 6; Wendehorst, in: MüKo BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 46 EGBGB Rn. 45 f.).
Eigentumserwerb des Bundes bei von Soldaten zurückgelassenen Gegenständen im Feldlager (Rn. 31)
Der Bund hat das Eigentum an den genannten Gegenständen, wenn die Soldaten sie in 2 bei der Materialbewirtschaftungsstelle abgegeben haben, nach § 929 BGB durch Einigung und Übergabe erlangt. Wenn die Soldaten die Sachen im Lager schlicht zurückgelassen haben, hat der Bund das Eigentum durch Aneignung erworben (§ 958 Abs. 2 BGB). Die Gegenstände wurden durch ihr Zurücklassen im Feldlager 2 zunächst herrenlos. Denn die Soldaten gaben ihren Besitz erkennbar in der Absicht auf, auf das Eigentum zu verzichten (§ 959 BGB). Ob die Sachen in das Eigentum und/oder den Besitz eines anderen Soldaten oder des Bundes übergehen oder entsorgt würden, war ihnen gleichgültig. Der Bund nahm die herrenlos gewordenen Gegenstände sodann durch die Materialbewirtschaftungssoldaten als Besitzdiener (§ 855 BGB) in Eigenbesitz. So wie Soldaten Besitzdiener des Bundes hinsichtlich der ihnen dienstlich anvertrauten Sachen sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Mai 2016 – 2 WD 16.15 – BVerwGE 155, 161 <165>), sind sie dies auch im Hinblick auf solches Material, das sie in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit einer dienstlichen Verwendung zuführen. Denn das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis eines Soldaten ist ein „ähnliches Verhältnis“ i.S.d. § 855 BGB, vermöge dessen ein Soldat den Weisungen, die sich auf solches Material beziehen, Folge zu leisten hat.
Prüfungsschema des Bundesverwaltungsgerichts bei der konkreten Bemessung der Disziplinarmaßnahme (Rn. 52)
Bei der konkreten Bemessung der Disziplinarmaßnahme geht der Senat von einem zweistufigen Prüfungsschema aus. Auf der ersten Stufe bestimmt er im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als „Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen“. Auf der zweiten Stufe prüft er, ob im Einzelfall im Hinblick auf die vorstehend genannten Bemessungskriterien und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, welche die Möglichkeit einer Milderung oder die Notwendigkeit einer Verschärfung gegenüber der auf der ersten Stufe in Ansatz gebrachten Regelmaßnahme eröffnen. Dabei ist zu klären, ob es sich im Hinblick auf die be- und entlastenden Umstände um einen schweren, mittleren oder leichten Fall der schuldhaften Pflichtverletzung handelt. Liegt kein mittlerer, sondern ein höherer bzw. niedrigerer Schweregrad vor, ist gegenüber dem Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die zu verhängende Disziplinarmaßnahme nach „oben“ bzw. nach „unten“ zu modifizieren. Zusätzlich sind die gesetzlich normierten Bemessungskriterien für die Bestimmung der konkreten Sanktion zu gewichten, wenn die Maßnahmeart, die den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet, dem Wehrdienstgericht hinsichtlich des Disziplinarmaßes einen Spielraum eröffnet (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Juni 2018 – 2 WD 15.17 – juris Rn. 49 und vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 – juris Rn. 29 f.).
Regelmaßnahme bei grob fahrlässiger Verletzung von Materialbewirtschaftungsvorschriften (Rn. 54 ff.)
Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen ist hier eine Kürzung der Dienstbezüge im mittleren Bereich. Hierfür sind folgende Erwägungen maßgebend:
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist bei einem Soldaten in einer Vorgesetztenstellung, der sich vorsätzlich an Eigentum oder Vermögen seines Dienstherrn vergreift, Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen regelmäßig eine Dienstgradherabsetzung. Erfolgt der vorsätzliche Zugriff im Bereich der dienstlichen Kernpflichten eines Soldaten, wenn etwa auf anvertrautes Gut zugegriffen wird, ist die Entfernung aus dem Dienst Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Mai 2016 – 2 WD 16.15 – BVerwGE 155, 161 <168> m.w.N.). In der Rechtsprechung des Senats ist ferner geklärt, dass fahrlässige Pflichtverletzungen grundsätzlich milder zu ahnden sind als vorsätzliche Pflichtverletzungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2018 – 2 WD 2.18 – juris Rn. 28). Dies gilt auch für grob fahrlässige Pflichtverletzungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. Februar 1998 – 2 WD 16.97 – Buchholz 236.1 § 7 SG Nr. 19). Denn die Rechtsordnung bewertet den Unrechtsgehalt zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Handeln regelmäßig unterschiedlich (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. April 2011 – 2 WD 7.10 – NZWehrr 2012, 35).
Der Soldat hat sich zwar in einer Vorgesetztenstellung am Eigentum und Vermögen seines Dienstherrn vergriffen. Mangels (Dritt-)Zueignungsabsicht hat er aber kein strafbares Zugriffsdelikt in Form eines Diebstahls oder einer Unterschlagung begangen, sondern eine straflose Gebrauchsanmaßung (furtum usus). Die betreffenden Gegenstände waren dem Soldaten auch nicht anvertraut. Ein Soldat greift nur dann auf einen ihm anvertrauten Gegenstand zu, wenn dieser sich bei gewöhnlichem Ablauf regulär in seinem Arbeitsbereich befindet und sich der Soldat auch faktisch gewöhnlich mit der Verwahrung und Verwaltung von derartigen Gegenständen befasst (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013 – 2 WD 16.12 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 43). Die bloße Möglichkeit des Zugriffs auf Gegenstände begründet kein Anvertrautsein (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Januar 2011 – 2 WD 20.09 – juris Rn. 23). Der Soldat war nicht regulär mit der Entgegennahme von Materiallieferungen und der Weitergabe von angeliefertem Material betraut. Dass er den Container LC09 an sich als S4-Stabsoffizier steuern und sich vom Materialgruppenführer im Feldlager 1 den Containerschlüssel aushändigen ließ, verschaffte ihm nur die Möglichkeit des Zugriffs auf die Gegenstände im Container. Gleichwohl ist darin ein besonderer Bezug des Dienstvergehens zu dem ihm übertragenen Aufgabenkreis zu sehen. Denn nur in seiner Funktion als S4-Stabsoffizier, der die Materialflüsse zu koordinieren und Material anzufordern und abzusteuern hatte, war es dem Soldaten möglich, sich diese Zugriffsmöglichkeit zu verschaffen. Wie ausgeführt hat der Soldat dabei grob fahrlässig gehandelt.
Bei einer solchen grob fahrlässigen, schwerpunktmäßigen Verletzung der Pflicht, das Vermögen des Dienstherrn zu schützen, durch eine mehrfache straflose Gebrauchsanmaßung an dienstlichem Material seitens eines in der Materialbewirtschaftung eingesetzten Soldaten in einer Vorgesetztenstellung, dem das dienstliche Material nicht anvertraut ist, erscheint als Regelmaßnahme eine Kürzung der Dienstbezüge im mittleren Bereich angemessen. Nach § 58 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 59 Satz 1 WDO besteht die Bezügekürzung in der bruchteilsmäßigen Verminderung der Dienstbezüge um mindestens 1/20 und höchstens 1/5 für die Dauer von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Eine Bezügekürzung im mittleren Bereich ist dementsprechend mit einer Kürzung um 1/10 für die Dauer von 30 Monaten anzusetzen.
Maßnahmemilderung bei überlangem Disziplinarverfahren (Rn. 64)
Bei pflichtenmahnenden Disziplinarmaßnahmen wie einer Bezügekürzung stellt ein gegen Art. 6 EMRK und rechtsstaatliche Grundsätze des Grundgesetzes (Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verstoßendes überlanges Disziplinarverfahren einen Milderungsgrund dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2018 – 2 WD 2.18 – juris Rn. 38). Denn das Verfahren als solches wirkt bereits belastend und ist deshalb mit pflichtenmahnenden Nachteilen verbunden, die nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das Sanktionsbedürfnis mindern können (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2017 – 2 WD 1.17 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 55). Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist nach den Umständen des Falls unter Berücksichtigung seiner Schwierigkeit, des Verhaltens des Betroffenen und der zuständigen Behörden und Gerichte sowie der Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen zu beurteilen. Dies erfordert eine Einzelfallprüfung ohne feste Zeitvorgaben oder abstrakte Orientierungs- und Anhaltswerte (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Mai 2018 – 2 WD 2.18 – juris Rn. 38 m.w.N.). Bei der Ermittlung der angemessenen Verfahrensdauer ist nicht nur die Dauer des gerichtlichen Verfahrens, sondern auch die Zeit vor Einleitung des Disziplinarverfahrens zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 – juris Rn. 45).
Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 28.18
BVerwG 2 WD 28.18
TDG Nord 6. Kammer – 19.07.2018 – AZ: TDG N 6 VL 1/16