Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 04. März 2020 – BVerwG 2 WD 3.19
Leitsätze:
1. Begeht ein Soldat wiederholt disziplinarisch relevante verbale sexuelle Belästigungen mit Hilfe sozialer Medien und verbindet er damit unaufgefordert die Versendung pornographischer Fotos, handelt es sich regelmäßig um keine leichte sexuelle Belästigung, sodass die Herabsetzung im Dienstgrad den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet.
2. Der Zeitraum zwischen Einlegung der Berufung und Vorlage der Berufungsakten beim Bundesverwaltungsgericht durch den Bundeswehrdisziplinaranwalt ist bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer einzubeziehen.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung
Lösung von den Feststellungen des Truppendienstgerichts bei schwerwiegenden Verfahrensmängeln (Rn. 12, 14)
Das Rechtsmittel der Wehrdisziplinaranwaltschaft ist auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkt worden. Der Senat hat in diesem Fall gemäß § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts seiner Entscheidung zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden (BVerwG, Urteil vom 2. Mai 2019 – 2 WD 15.18 – Rn. 17 f. m.w.N.). Etwas anderes gilt jedoch, wenn die erstinstanzliche Entscheidung an schweren Mängeln des Verfahrens im Sinne von § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 Abs. 2 WDO leidet. Als schwerwiegender Mangel des Verfahrens ist in der Rechtsprechung des Senats u. a. das Fehlen von ausreichenden und widerspruchsfreien Feststellungen zur Tat- und Schuldfrage anerkannt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. März 2010 – 2 WD 10.09 – juris Rn. 15). Denn Voraussetzung für die im Berufungsverfahren zu treffende Entscheidung über die gebotene und angemessene Disziplinarmaßnahme ist, dass die durch die Beschränkung der Berufung unangreifbar gewordenen Tat- und Schuldfeststellungen des angeschuldigten Soldaten hinreichend, nachvollziehbar, in sich schlüssig und widerspruchsfrei sind. Unklare, lückenhafte oder widersprüchliche Feststellungen können keine ausreichende Grundlage für das festzusetzende Disziplinarmaß sein (vgl. BVerwG, Beschluss vom 24. März 2010 – 2 WD 10.09 – juris Rn. 16).
(…)
Von der wegen dieses schweren Verfahrensmangels nach § 121 Abs. 2 WDO eröffneten Möglichkeit, die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, hat der Senat – wie durch einen richterlichen Hinweis in der Verhandlung angekündigt – im vorliegenden Fall keinen Gebrauch gemacht. Im Rahmen des ihm insoweit eröffneten Ermessens hat er aus Gründen der Beschleunigung des Gerichtsverfahrens auf der Grundlage einer eigenen Beweisaufnahme die erforderlichen Beweise erhoben und selbst in der Sache entschieden. Aufgrund des schweren Verfahrensfehlers der erstinstanzlichen Entscheidung ist allerdings die Bindung des Berufungsgerichts – ähnlich wie im Fall der Zurückverweisung – an die Tat- und Schuldfeststellungen der erstinstanzlichen Entscheidung entfallen, weil widersprüchliche Feststellungen keine ausreichende Grundlage für das festzusetzende Disziplinarmaß sein können. Der Wegfall der Bindungswirkung gilt wie im Fall der Zurückverweisung für die Feststellungen zu allen Anschuldigungspunkten, auch wenn das Urteil – wie hier – nur in einem Anschuldigungspunkt schwer fehlerhaft ist. Denn nach dem Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens kann die Berufung nicht auf einzelne Anschuldigungspunkte beschränkt werden (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2006 – 2 WD 1.06 – juris Rn. 31 f.). Darum kann auch eine beschränkte Berufung nicht hinsichtlich einzelner Anschuldigungspunkte fortbestehen.
Sexuelle Belästigung im Sinne des § 3 IV SoldGG (Rn. 19)
Nach § 3 Abs. 4 SoldGG liegt eine sexuelle Belästigung vor, wenn ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird. Nach der beispielhaften Auflistung der Norm kann ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten insbesondere – wie hier – in Aufforderungen zu sexuellen Handlungen, in Bemerkungen sexuellen Inhalts und im Zeigen pornographischer Bilder liegen.
Das gesetzliche Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit erfordert nicht, dass die Betroffenen dem Belästigenden die ablehnende Einstellung zu den fraglichen Verhaltensweisen zuvor aktiv verdeutlichen. Es reicht aus, wenn der Handelnde aus der Sicht eines objektiven Beobachters davon ausgehen muss, dass das Verhalten unter den gegebenen Umständen von der Betroffenen nicht erwünscht oder auch nicht akzeptiert wird (BVerwG, Urteil vom 6. April 2017 – 2 WD 13.16 – juris Rn. 85 m.w.N.).
Sexuelle Belästigung außer Dienst ist pflichtwidrig (Rn. 23)
Im zweiten Fall hat der Soldat im Schwerpunkt seine außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG verletzt. Er hat an einem Wochenende außerhalb des Dienstes und außerhalb dienstlicher Anlagen gehandelt. Es ist auch kein funktionaler dienstlicher Zusammenhang im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SoldGG erkennbar, sodass der Anwendungsbereich des ausdrücklichen gesetzlichen Verbots der sexuellen Belästigung durch § 7 Abs. 2 SoldGG nicht eröffnet ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. Oktober 2005 – 2 WD 33.04 – Rn. 110 f. und vom 6. April 2017 – 2 WD 13.16 – juris Rn. 85 m.w.N.). Es liegt jedoch auf der Hand, dass die in § 3 Abs. 4 SoldGG beschriebene sexuelle Belästigung auch außerhalb des Dienstes grundsätzlich pflichtwidrig ist, weil ein Soldat damit das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, regelmäßig erheblich beeinträchtigt.
Regelmaßnahme bei sexuellen Belästigungen von Untergebenen durch Vorgesetzte im Dienst (Rn. 25)
Nach der Rechtsprechung des Senats bildet bei sexuellen Belästigungen von Untergebenen durch Vorgesetzte im Dienst regelmäßig eine Herabsetzung im Dienstgrad den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen; dies gilt auch dann, wenn das Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis wie hier nur kraft Dienstgrads besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Juni 2018 – 2 WD 15.17 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 56 Rn. 32 und 48).
Disziplinare Vorbelastung als belastender Umstand im Sinne des § 38 II WDO (Rn.34)
Zum einen wirkt die disziplinarische Vorbelastung erschwerend. Der Soldat hat bereits eine gerichtliche Disziplinarmaßnahme in Form eines Beförderungsverbots erhalten, ohne sich davon von weiteren Dienstvergehen abhalten zu lassen. Da es bis Mitte September 2017 wirkte, ist der Soldat zudem noch während dessen Geltung erneut disziplinarisch in Erscheinung getreten. Auch wenn keine Gesetzmäßigkeit besteht, dass eine disziplinarische Vorbelastung bei einem erneuten Dienstvergehen zwingend zu einer schwereren als der zuvor verhängten Disziplinarmaßnahmeart führt (BVerwG, Urteil vom 13. September 2011 – 2 WD 15.10 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 33 Rn. 60), handelt es sich gleichwohl um einen Umstand, dem gemäß § 38 Abs. 2 WDO besonders belastendes Gewicht zukommt (vgl. BVerwG, Urteile vom 8. Februar 2018 – 2 WD 9.17 – Rn. 38 und vom 16. Januar 2020 – 2 WD 2.19 – juris Rn. 33).
Pflichtverletzungen gegen Rekruten als sehr belastender Umstand (Rn. 36)
Die unter Anschuldigungspunkt 2 begangene Pflichtverletzung richtete sich gegen eine Rekrutin. Der Senat hat mehrfach betont, dass dies einen sehr belastenden Umstand bildet. Rekruten verfügen in aller Regel weder über Erfahrungen mit den Schutzmechanismen gegen Übergriffe von Vorgesetzten noch über ein hinreichendes Selbstbewusstsein zur Durchsetzung ihrer Rechte. Mit den Möglichkeiten, sich gegen Fehlverhalten von Vorgesetzten zur Wehr zu setzen, sind sie noch nicht vertraut und vor allem durch die Sorge über etwaige nachteilige Folgen einer Meldung leicht einzuschüchtern (BVerwG, Urteile vom 13. Februar 2014 – 2 WD 4.13 – juris Rn. 58 und vom 23. Juni 2016 – 2 WD 21.15 – juris Rn. 35).
Volltextveröffentlichung der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 3.19
BVerwG 2 WD 3.19
TDG Nord 2. Kammer – 09.10.2018 – AZ: TDG N 2 VL 5/17