Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 27. Juli 2010 – BVerwG 2 WD 5.09

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Prüfungsumfang des Wehrdienstsenates bei maßnahmenbeschränkter Berufung (Rn. 12)

Das Rechtsmittel der Wehrdisziplinaranwaltschaft ist auf die Disziplinarmaßnahme beschränkt worden. Der Senat hat daher die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts seiner Entscheidung zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Ob die Tat- und Schuldfeststellungen vom Truppendienstgericht rechtsfehlerfrei getroffen worden sind, darf vom Senat nicht überprüft werden. Denn bei einer auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung wird der Prozessstoff nicht mehr von der Anschuldigungsschrift, sondern nur von den bindend gewordenen Tat- und Schuldfeststellungen des angefochtenen Urteils bestimmt. Der Senat wäre allerdings nicht gehindert, Lücken in den tatsächlichen Feststellungen des Truppendienstgerichts zu schließen und zusätzlich eigene, für die Maßnahmebemessung erhebliche Feststellungen zum Tathergang zu treffen, solange dies weder im Widerspruch zu den Tat- und Schuldfeststellungen der Truppendienstkammer stünde noch dadurch deren rechtliche Würdigung in Frage gestellt würde (Urteil vom 10. September 2009 – BVerwG 2 WD 28.08 – Rn. 14 m.w.N.).

Eigenart und Schwere des Dienstvergehens bei sexueller Nötigung / Missbrauch eines Kindes (Rn. 16)

Der sexuelle Missbrauch eines Kindes oder – wie vorliegend – die sexuelle Nötigung einer Jugendlichen ist in hohem Maße persönlichkeits- und sozialschädlich. Denn der Täter greift damit in die sittliche Entwicklung eines jungen Menschen ein und gefährdet die harmonische Entwicklung seiner Gesamtpersönlichkeit sowie seine Einordnung in die Gemeinschaft, weil ein Jugendlicher wegen seiner fehlenden bzw. noch nicht hinreichenden Reife intellektuell und gefühlsmäßig das Erlebte in der Regel gar nicht oder nur schwer verarbeiten kann. Zugleich benutzt der Täter die Person eines Jugendlichen als „Mittel“ zur Befriedigung seines Geschlechtstriebes und verletzt dadurch dessen durch
Art. 1 Abs. 1 GG geschützte unantastbare Menschenwürde. Sexueller Missbrauch eines Jugendlichen schädigt regelmäßig das Ansehen des Täters schwerwiegend. Denn der Schutz dieses Personenkreises vor sittlicher Gefährdung wird – trotz „Liberalisierung“ der gesellschaftlichen Anschauungen auf diesem Gebiet – von der Bevölkerung nach wie vor sehr ernst genommen. Verstöße gegen die einschlägigen strafrechtlichen Schutzbestimmungen werden nach wie vor als verabscheuungswürdig angesehen und setzen den Täter kritischer Resonanz und Missachtung aus. Darüber hinaus hat die strafbare, rechts- und sittenwidrige Nötigung eines Jugendlichen durch einen Soldaten, der als Teil der staatlichen Gewalt die Würde des Menschen zu achten und zu schützen hat (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG), auch im dienstlichen Bereich aus der Sicht eines vorurteilsfreien und besonnenen Betrachters eine nachhaltige Ansehensschädigung zur Folge. Denn dadurch wird das Vertrauen, das der Dienstherr in die Selbstbeherrschung, Zuverlässigkeit und moralische Integrität des Soldaten setzt, von Grund auf erschüttert. Wer als Soldat in dieser Weise versagt, beweist damit erhebliche Persönlichkeitsmängel (Urteile vom 18. Juli 2001 – BVerwG 2 WD 51.00 – sowie vom 29. Januar 1991 – BVerwG 2 WD 18.90 – BVerwGE 93, 30 <31 ff.>; vgl. auch Urteil vom 25. März 2010 – BVerwG 2 C 83.08 – juris Rn. 19).

Anforderungen an „Augenblickstat“ (Rn. 23)

Anders als vom Truppendienstgericht angenommen, lag auch keine Augenblickstat vor, die schuldmildernd zu berücksichtigen gewesen wäre. Sie ist nur gegeben, wenn der Soldat das Dienstvergehen in einem Zustand oder in einer Situation begangen hat, in der er aufgrund der konkreten Umstände die rechtlichen und tatsächlichen Folgen seines Verhaltens nicht hinreichend bedenken konnte und nicht bedacht hat. Kennzeichnend für solche besonderen Umstände, die ein normgerechtes Verhalten typischerweise nicht mehr in dem gebotenen Maße erwarten lassen, sind Situationen, in denen sich der Betreffende ohne hinreichende Gelegenheit zu kritischem Nachdenken und Abwägen kurzfristig entscheiden muss, so dass sein Handeln in hohem Maße von Spontaneität, Kopflosigkeit oder Unüberlegtheit geprägt ist (Urteil vom 2. April 2008 – BVerwG 2 WD 13.07 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 25). 

Geltung des Schuldgrundsatzes im Disziplinarrecht und Auswirkungen des Alkoholkonsums (Rn. 25)

Der nicht nur im Straf-, sondern auch im Disziplinarecht mit Verfassungsrang bestehende und auch in § 23 Abs. 1 SG enthaltene Schuldgrundsatz (BVerfG, Beschluss vom 18. Januar 2008 – 2 BvR 313/07 – NVwZ 2008, 669/670) verbietet zwar nicht, der Prämierung eines Fehlverhaltens dann entgegenzuwirken, wenn sich der Soldat durch Alkoholkonsum schuldhaft in den Zustand des § 21 StGB versetzt hat (Urteil vom 24. November 2005, a.a.O); er verlangt jedoch, dass der Soldat zumindest in diesem Stadium befähigt gewesen sein muss, anders zu handeln. Ein an diese Entschließungs- und Handlungsfreiheit anknüpfender Schuldvorwurf kann dann nicht mehr erhoben werden, wenn der Soldat zum Zeitpunkt des Dienstvergehens an einer Alkoholerkrankung gelitten hat (Urteil vom 16. Mai 2006, a.a.O.). Da der umfassende Geltungsanspruch des aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip sowie der wertsetzenden Entscheidung des Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Schuldprinzips es verbietet, schuldmildernde Umstände erst ab einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB zum Tragen kommen zu lassen, sind diese Grundsätze auch vorliegend zu Gunsten des Soldaten zur Anwendung zu bringen. 

Regelmaßnahme bei sexuellem Missbrauch eines Kindes / sexuelle Nötigung eines Jugendlichen (Rn. 28)

 Auf der ersten Stufe ist im Hinblick auf das Gebot der Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als „Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen“ zu bestimmen. Dabei entspricht es der Rechtsprechung des Senats, dass beim sexuellen Missbrauch eines Kindes oder der sexuellen Nötigung eines Jugendlichen der Soldat für die Bundeswehr im Grundsatz untragbar geworden ist (Urteile vom 18. Juli 2001, a.a.O. sowie vom 29. Januar 1991 – BVerwG 2 WD 18.90 – a.a.O.). Die Verhängung der disziplinarischen Höchstmaßnahme ist nämlich dann geboten, wenn der Soldat durch ein schweres Dienstvergehen das in ihn gesetzte Vertrauen seines Dienstherrn endgültig verloren hat, sodass diesem bei objektiver Betrachtung eine Fortsetzung des Dienstverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann. Ob das Vertrauen in die Zuverlässigkeit und persönliche Integrität des betroffenen Soldaten erschüttert oder gar zerstört ist, ist allein nach einem objektiven Maßstab nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der wehrdienstgerichtlichen Entscheidung zu beurteilen (Urteil vom 4. März 2009 – BVerwG 2 WD 10.08 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 27). Nur in minder schweren Fällen oder bei Vorliegen besonderer Milderungsgründe kann der Soldat somit in seinem Dienstverhältnis verbleiben (Urteile vom 18. Juli 2001, a.a.O. – sowie vom 29. Januar 1991, a.a.O.).

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 5.09

BVerwG 2 WD 5.09
Truppendienstgericht Süd 5. Kammer – 03.12.2008 – AZ: S 5 VL 28/08

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