Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 15. Juli 2021 – BVerwG 2 WD 6.21

Leitsatz:

Das Gericht muss im Rahmen des ihm nach § 21 StGB analog zustehenden Ermessens bei einer eigenmächtigen Abwesenheit von der Truppe eine Disziplinarmaßnahme dann nicht mildern, wenn während eines langen Abwesenheitszeitraums die Schuldfähigkeit des Soldaten nur an wenigen Tagen erheblich vermindert war.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Anforderungen an Rechtmäßigkeit des Fernbleibens vom Dienst bei Krankheit (Rn. 18)

Objektiv ist der frühere Soldat in den unter den Anschuldigungspunkten 1 und 2 genannten Zeiträumen dem Dienst unerlaubt ferngeblieben, weil keine förmlichen Entscheidungen des Disziplinarvorgesetzten vorlagen, die allein den früheren Soldaten von der Dienstleistung entbunden hätten. Erst durch sie entfällt die Verpflichtung zum Erscheinen am Dienstort und zur Dienstleistung (BVerwG, Urteile vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 – BVerwGE 166, 189 ff. Rn. 24 sowie vom 2. Dezember 1986 – 2 WD 48.85 – BVerwGE 83, 265); etwaige ärztliche Atteste – gleichviel ob solche der Truppenärzte oder ziviler Ärzte – über eine Dienstunfähigkeit ändern an dem Unerlaubtsein nichts.

Anforderungen an die Prüfung der Schuldunfähigkeit (Rn. 23)

Ob die Schuldfähigkeit zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder – was auf der unter 3.) dargelegten Zumessungsstufe erst bedeutsam wird – im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, unterliegt einer mehrstufigen Prüfung (BVerwG, Urteil vom 4. Juni 2020 – 2 WD 10.19 – NVwZ-RR 2020, 983 <984> Rn. 30). Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Dabei fällt eine kombinierte Persönlichkeitsstörung nur dann unter das vierte Merkmal des § 20 StGB der – wie es seit dem Sechzigsten Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. November 2020 (BGBl. I Bl. 2600) seit dem 1. Januar 2021 heißt – „schweren anderen seelischen Störung“, wenn sie in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkommt und Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen (BVerwG, Urteile vom 3. Dezember 2020 – 2 WD 4.20 – Rn. 51 und vom 16. Februar 2017 – 2 WD 14.16 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 53 Rn. 34 sowie BGH, Urteile vom 26. April 2007 – 4 StR 7/07 – juris Rn. 7 m.w.N, vom 14. August 2014 – 4 StR 163/14 – juris Rn. 28 und vom 25. Oktober 2017 – 5 StR 72/17 – juris Rn. 19). Die Störung muss nach ihrem Ausprägungsgrad Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit haben, also im Alltag und auch außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens geführt haben. Denn nur dann ist anzunehmen, dass nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervorgetreten sind, die sich im Rahmen dessen halten, was auch bei schuldfähigen Menschen anzutreffen und oft Ursache für strafbares Verhalten ist (Stimmungsschwankungen, geringe Frustrationstoleranz, Tendenz zu Streitereien und Impulsivität, vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Oktober 2020 – 2 WD 1.20 – juris Rn. 32 sowie BGH, Beschluss vom 21. Juni 2016 – 4 StR 161/16 – StV 2017, 588 – Rn. 18 ff.). Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die psychopathologischen Verhaltensmuster muss seine psychische Funktionsfähigkeit bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Auch wenn der Richter jeweils für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen ist, handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB bei gesichertem Vorliegen eines psychiatrischen Befunds wie bei der Prüfung der erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit gleichwohl um Rechtsfragen. Deren Beurteilung erfordert konkretisierende und widerspruchsfreie Darlegungen dazu, in welcher Weise sich die psychische Störung bei Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeschuldigten in der konkreten Tatsituation und damit auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. Das gilt besonders dann, wenn es um die Beurteilung kaum messbarer, objektiv schwer darstellbarer Befunde und Ergebnisse geht, wie es etwa bei einer Persönlichkeitsstörung der Fall ist (BGH, Beschluss vom 14. Juli 2016 – 1 StR 285/16 – juris Rn. 7 ff.)

Gründe für die Ablehnung eines Sachverständigen (Rn. 25)

Die Gründe für die Ablehnung eines Sachverständigen ergeben sich aus § 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 74 Abs. 1 i.V.m. § 22 Nr. 1 bis 5 StPO. Maßgeblich ist damit allein, ob vom Standpunkt des Ablehnenden betrachtet bei objektiver, vernünftiger und verständiger Würdigung ein Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Sachverständigen gerechtfertigt erscheint (vgl. Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Auflage 2017, Rn. 1551 m.w.N.). Die Mitwirkung im Vorverfahren im Auftrag der Staatsanwaltschaft oder Polizei ist für sich allein genommen kein Ablehnungsgrund (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2007 – 1 StR 331/07 – NStZ 2008, 50); desgleichen gilt, wenn der Sachverständige schon in einem früheren Strafverfahren gegen denselben Beschuldigten tätig war (Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Auflage 2017, Rn. 1551a m.w.N.).

Verletzte Dienstpflichten bei unerlaubtem Fernbleiben von der Truppe (Rn. 32, 33)

Durch sein unerlaubtes Fernbleiben hat er die nach § 7 SG bestehende Pflicht zum treuen Dienen vorsätzlich verletzt. Sie gehört zu den zentralen Pflichten eines Soldaten, deren Verletzung von erheblicher Bedeutung ist. Ein Soldat, der der Truppe unerlaubt fernbleibt, versagt im Kernbereich seiner Dienstpflichten. Die Bundeswehr kann die ihr obliegenden Aufgaben nur dann erfüllen, wenn nicht nur das innere Gefüge der Streitkräfte so gestaltet ist, dass sie ihren militärischen Aufgaben gewachsen ist, sondern auch ihre Angehörigen im erforderlichen Maße jederzeit präsent und einsatzbereit sind. Der Dienstherr muss sich darauf verlassen können, dass jeder Soldat seinen Pflichten zur Verwirklichung des Verfassungsauftrages der Bundeswehr nachkommt und alles unterlässt, was dessen konkreter Wahrnehmung zuwiderläuft. Dazu gehören insbesondere die Pflichten zur Anwesenheit und gewissenhaften Dienstleistung. Die Verletzung der Pflicht zur militärischen Dienstleistung berührt nicht nur die Einsatzbereitschaft der Truppe, sie erschüttert auch die Grundlagen des Dienstverhältnisses selbst (BVerwG, Urteil vom 19. Mai 2015 – 2 WD 13.14 – juris Rn. 25 m.w.N.).

Zugleich hat er damit nach § 15 Abs. 1 WStG vorsätzlich und wiederholt eine Straftat verwirklicht und auch dadurch gegen die Pflicht zum treuen Dienen verstoßen, da diese auch die Verpflichtung zur Loyalität gegenüber der geltenden Rechtsordnung, vor allem die Beachtung der Strafgesetze, einschließt (BVerwG, Urteil vom 1. Februar 2012 – 2 WD 1.11 – Rn. 50 ff.). Diese Loyalitätspflicht verletzte der frühere Soldat, weil das Fernbleiben vom Dienst weit über drei Tage hinaus zugleich den Wehrstraftatbestand der eigenmächtigen Abwesenheit (§ 15 Abs. 1 WStG) erfüllte (BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2019 – 2 WD 19.18 – BVerwGE 166, 189 Rn. 22).

Regelmaßnahme bei vorsätzlichem eigenmächtigen Fernbleibens von der Truppe (Rn. 38)

Für Fälle des vorsätzlichen eigenmächtigen Fernbleibens eines Soldaten von der Truppe ist dies bei kürzerer unerlaubter Abwesenheit grundsätzlich eine Dienstgradherabsetzung; bei länger dauernder, wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht wiegt das Dienstvergehen so schwer, dass es regelmäßig die Höchstmaßnahme indiziert (BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2020 – 2 WD 16.19 – juris Rn. 13 m.w.N.)

Anwendungsvoraussetzungen des § 21 StGB (Rn. 52)

Im Disziplinarrecht indiziert eine erheblich eingeschränkte Schuldfähigkeit zwar regelmäßig eine – vergleichbar zur Strafrahmenverschiebung (BGH, Urteil vom 23. April 2009 – 3 StR 100/09 – Rn. 10) – mildere Disziplinarmaßnahme (BVerwG, Urteil vom 19. Juni 2019 – 2 WD 21.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 65 Rn 35); eine Milderung ist jedoch nicht obligatorisch. Sie steht vielmehr nach dem Wortlaut des insoweit maßgeblichen § 21 StGB („kann“) verfassungsrechtlich unbedenklich (BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1978 – 1 BvR 983/78 – BVerfGE 50, 5 Rn. 15 ff.) im gerichtlichen Ermessen. Denn der Schuldgehalt einer Tat richtet sich nicht allein nach dem Grad der Schuldfähigkeit des Täters, sondern nach den gesamten Umständen (BVerfG, Beschluss vom 25. Oktober 1978 – 1 BvR 983/78 – BVerfGE 50, 5 ff. Rn. 16). Eine nach § 21 StGB geringere Schuld kann somit durch anderweitige schulderhöhende Momente kompensiert werden (BGH, Beschluss vom 25. März 2014 – 1 StR 65/14 – NStZ-RR 2014, 238 <239>), auch wenn schuldindifferente Faktoren, insbesondere Präventionserwägungen, außen vor zu bleiben haben. Auch muss der gegen die Milderung sprechende Grund umso gewichtiger sein, je gravierender sich auswirkt, dass an der Regelmaßnahme festgehalten wird (BGH, Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 24. Juli 2017 – GSSt 3/17 – NStZ 2018, 273 Rn. 40 und 42). 

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 6.21

BVerwG 2 WD 6.21
TDG Süd 5. Kammer – 01.08.2019 – AZ: TDG S 5 VL 25/17

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