Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Beschwerde nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 13. April 2021 – BVerwG 2 WDB 1.21

Entscheidung:

Nach § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO „soll“ die Anschuldigungsschrift die Tatsachen, in denen ein – schuldhaftes – Dienstvergehen erblickt wird, und die Beweismittel geordnet darstellen. Die gesetzliche Vorgabe ist trotz der als Sollvorschrift gestalteten Fassung des § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO zwingend, soweit sie sich auf diesen notwendigen Inhalt der Anschuldigungsschrift bezieht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. November 2010 – 2 WD 25.09 – juris Rn. 22). Der notwendige Inhalt ist vorliegend gewahrt.

Die Anschuldigungsschrift verfolgt einen doppelten Zweck. Zum einen hat sie eine Umgrenzungsfunktion. Sie legt Umfang und Grenzen des Prozessstoffes fest und bestimmt insoweit den Sachverhalt, der allein zum Gegenstand der Urteilsfindung gemacht werden darf (BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 2009 – 2 WD 4.08 – BVerwGE 133, 129 Rn. 12); damit bestimmt sie den Prozessgegenstand (Schneider, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 200 Rn. 1). Diese Umgrenzungsfunktion ist nur gewahrt, wenn die dem Soldaten vorgeworfene Pflichtverletzung hinreichend konkretisiert ist, der Prozessgegenstand, über den das Gericht entscheiden soll, feststeht und zudem klar wird, welchen Umfang die Rechtskraft eines daraufhin ergangenen Urteils haben würde (zu § 200 StPO: BGH, Beschluss vom 4. April 2017 – 2 StR 409/16 – NStZ 2017, 551 Rn. 8 f. und Urteil vom 9. Januar 2018 – 1 StR 370/17 – NJW 2018, 878 Rn. 10). Zum anderen hat die Anschuldigungsschrift eine Informationsfunktion. Sie soll dem Soldaten die Vorbereitung seiner Verteidigung ermöglichen und dient somit der Gewährung rechtlichen Gehörs (Wenske, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, § 200 Rn. 5). Dies verlangt, dass der mit ihr erhobene Vorwurf für ihn so deutlich und so klar formuliert ist, dass er sich mit seiner Verteidigung darauf einstellen kann (BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 2009 – 2 WD 4.08 – BVerwGE 133, 129 Rn. 12). Diesbezügliche Mängel begründen jedoch nicht die Unwirksamkeit der Anklage (BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 – 1 StR 412/11 – BGHSt 57, 88 Rn. 12). Nach Maßgabe dessen stellt das Fehlen der Tatortbezeichnung vorliegend weder die Informations- und vor allem nicht die Umgrenzungsfunktion der Anschuldigungsschrift in Frage.

Anders als § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO verlangt § 99 Abs. 1 Satz 2 WDO schon nicht ausdrücklich, dass der Ort des Dienstvergehens bezeichnet wird und selbst im Strafprozessrecht wird die Tatortbezeichnung zwar regelmäßig gefordert (Wenske, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, § 200 Rn. 16), auch dort jedoch nicht als unerlässliches und gleichsam konstitutives Merkmal des Anklagesatzes angesehen (BGH, Urteil vom 17. August 2017 – 4 StR 127/17 – NStZ-RR 2017, 352 Rn. 16; Schneider, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 200 Rn. 3). Die Merkmale, die zur rechtlich hinreichenden Umgrenzung einer Tat benötigt werden, können variabel sein, solange die Anklageschrift ihre Aufgabe erfüllt, die Identität des geschichtlichen Vorgangs so klar darzustellen, dass erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist. Das umschriebene Geschehen muss sich von möglichen anderen gleichartigen Handlungen des Täters unterscheiden lassen und umso konkreter geschildert sein, je größer die Gefahr verwechselbarer weiterer Taten ist (BGH, Urteile vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05 – NStZ 2006, 649 f. und vom 24. Januar 2012 – 1 StR 412/11 – NJW 2012, 867 <868>).

Die Frage, welchen Anforderungen der Anklagesatz zur Wahrung seiner Umgrenzungsfunktion gerecht werden muss, ist folglich nicht in der Weise allgemein zu beantworten, dass hierfür unerlässliche tatindividualisierende Merkmale aufgestellt werden. Erforderlich ist stets eine Betrachtung der Umstände des Einzelfalls (Wenske, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, § 200 Rn. 18; Puppe, NStZ 1982, 230 <231>). Ist die Tat durch andere Tatumstände unverwechselbar bestimmt, kann die Angabe von dessen Zeit und Ort sogar verzichtbar sein oder sich auf einen möglichst kurz zu bemessenden Zeitraum oder eine allgemeinere Beschreibung der Tatorte beschränken (Stuckenberg, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018, § 200 Rn. 19). Dabei rechtfertigen es namentlich die in bestimmten Verfahren oft bestehenden Beweisschwierigkeiten, die idealtypischen Anforderungen an die realen Möglichkeiten der Tatkonkretisierung anzupassen (Schneider, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. 2019, § 200 Rn. 3). Ansonsten drohen – strafrechtliche oder disziplinarische – Ahndungslücken (BGH, Urteil vom 11. Januar 1994 – 5 StR 682/93 – NJW 1994, 2556 f.). Strukturelle Beweisschwierigkeiten bestehen insbesondere im Betäubungsmittelstrafrecht (Wenske, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2016, StPO § 200 Rn. 22); ihnen sieht sich die Anschuldigungsbehörde insbesondere dann ausgesetzt, wenn ein Drogendelikt im Raum steht, dessen Tatort nach dem aktuellen Verfahrensstand allein durch eine Information des Angeschuldigten ermittelbar wäre.

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WDB 1.21

BVerwG 2 WDB 1.21

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