Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Beschwerde nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 1. September 2017 – BVerwG 2 WDB 4.17
Leitsatz:
Die extreme Überlänge eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens kann ein Verfahrenshindernis nach § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO begründen.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung
Möglichkeit eines Verfahrenshindernisses durch extreme Überlänge des Disziplinarverfahrens (Rn. 9)
Zwar kann die extreme Überlänge eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens ein Verfahrenshindernis begründen. Unter dem Begriff eines Verfahrenshindernisses im Sinne von § 108 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 WDO fallen alle Umstände, die der Fortführung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens von Rechts wegen entgegenstehen, also diese verhindern. Dazu zählen fehlende allgemeine Verfahrensvoraussetzungen (z.B. die Verfolgbarkeit von Täter und Tat), sowie schwere Mängel des Verfahrens, die nicht auf andere Weise geheilt werden können (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 22. Juli 2004 – 2 WDB 4.03 – Buchholz 235.01 § 93 WDO 2002 Nr. 3, vom 4. September 2013 – 2 WDB 4.12 – juris Rn. 14 und vom 30. September 2013 – 2 WDB 5.12 – juris Rn. 11). Wird ein gerichtliches Disziplinarverfahren entgegen § 17 Abs. 1 WDO nicht mit der gebotenen Beschleunigung betrieben und dadurch unter Verletzung des grundgesetzlichen Rechtsschutzanspruchs (vgl. BVerwG, Beschluss vom 30. August 2016 – 2 BvC 26/14 – Vz 1/16 – juris Rn. 17) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK überlang, liegt ein Verfahrensfehler vor. Dieser wiegt umso schwerer, je länger die sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung andauert. Es ist auch nicht möglich, einen derartigen Fehler nachträglich zu heilen.
Daher entspricht es der Rechtsprechung des Senats, dass in extrem gelagerten Fällen einer Überlänge eine Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 6. September 2012 – 2 WD 26.11 – Rn. 40). Diese erfolgt auf der Grundlage von § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO. Sind Ausmaß und Folgen der Überlänge des Verfahrens hingegen nicht derart gravierend, kann eine Einstellung entsprechend § 108 Abs. 3 Satz 2 WDO erwogen werden, wenn wegen des Dienstvergehens eine pflichtenmahnende Disziplinarmaßnahme im Raum steht (BVerwG, Urteil vom 6. September 2012 – 2 WD 26.11 – Rn. 39). Nach der Gesetzessystematik sind vorrangig die zwingenden Einstellungsgründe nach § 108 Abs. 3 Satz 1 WDO und erst wenn diese nicht vorliegen, ist die im Ermessen des Gerichts stehende Einstellung aus Opportunitätsgründen nach § 108 Abs. 3 Satz 2 WDO zu prüfen. Scheidet auch nach dieser Norm eine Einstellung des Verfahrens aus, ist zu prüfen, ob der Überlänge des Verfahrens bei der Verhängung pflichtenmahnender Maßnahmen im Rahmen der Bemessungsentscheidung Rechnung zu tragen ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 26. September 2006 – 2 WD 2.06 – BVerwGE 127, 1 <32>; vom 13. März 2008 – 2 WD 6.07 – Rn. 116; vom 22. Oktober 2008 – 2 WD 1.08 – Rn. 122; vom 4. Mai 2011 – 2 WD 2.10 – Buchholz 450.2 § 58 WDO 2002 Nr. 6 Rn. 47 sowie vom 29. November 2012 – 2 WD 10.12 – juris Rn. 62).
Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer (Rn. 14)
Ob die Dauer eines konkreten Verfahrens noch angemessen ist, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Falls und folgender Kriterien zu beurteilen: die Schwierigkeit des Falls, das Verhalten des Betroffenen und das der zuständigen Behörden und Gerichte sowie die Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen (EGMR, Urteil vom 16. Juli 2009 – 8453/04 – NVwZ 2010, 1015 <1017> m.w.N., BVerwG, Urteil vom 6. September 2012 – 2 WD 26.11 – Rn. 36). Hier ist eine Einzelfallprüfung erforderlich und es ist nicht auf feste Zeitvorgaben oder abstrakte Orientierungs- bzw. Anhaltswerte abzustellen, unabhängig davon, ob diese auf eigener Annahme oder statistisch ermittelten durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten beruhen (BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 Rn. 29). Im Zusammenhang mit der Verfahrensführung durch das Gericht ist bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 6 EMRK zu berücksichtigen, dass die Verfahrensdauer in einem Spannungsverhältnis zur richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) und zum rechtsstaatlichen Gebot steht, eine inhaltlich richtige, an Recht und Gesetz orientierte Entscheidung zu treffen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Juli 2013 – 5 C 23.12 D – BVerwGE 147, 146 Rn. 42). Bei der Verfahrensgestaltung kommt dem Gericht ein Gestaltungsspielraum zu. Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie – auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums – sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind.
Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WDB 4.17
BVerwG 2 WDB 4.17
TDG Süd 5. Kammer – 29.03.2017 – AZ: TDG S 7 VL 07/09