Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Beschwerde nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 16. Dezember 2020 – BVerwG 2 WDB 9.20
Leitsatz:
Bei der Überprüfung einer truppendienstgerichtlichen Entscheidung nach § 126 Abs. 5 Satz 3 WDO über die Aufrechterhaltung einer auf § 126 Abs. 2 Satz 1 WDO gestützten Einbehaltensanordnung ist grundsätzlich von der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung auszugehen. Ergibt sich dabei, dass die Einbehaltensanordnung aufzuheben ist, ist weiter zu prüfen, ob sie auch schon zuvor rechtswidrig war und deshalb rückwirkend aufzuheben ist.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung
Überprüfung der Aufrechterhaltung einer EInbehaltensanordnung (Rn. 12, 13)
Bei der Überprüfung einer truppendienstgerichtlichen Entscheidung nach § 126 Abs. 5 Satz 3 WDO über die Aufrechterhaltung einer auf § 126 Abs. 2 Satz 1 WDO gestützten Einbehaltensanordnung ist grundsätzlich von der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung auszugehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juli 2020 – 2 WDB 5.20 – juris Rn. 18). Ergibt sich dabei, dass die Einbehaltensanordnung aufzuheben ist, ist weiter zu prüfen, ob sie auch schon zuvor rechtswidrig war und deshalb rückwirkend aufzuheben ist (vgl. BDH, Beschluss vom 28. August 1959 – W DB 14.59 – DÖV 1960, 513). An der diesbezüglichen Feststellung besteht ein Rechtsschutzinteresse, weil die nach § 126 WDO einbehaltenen Beträge gemäß § 127 Abs. 1 Nr. 1 WDO verfallen, wenn im disziplinargerichtlichen Verfahren auf die Höchstmaßnahme erkannt wird. Der Verfall tritt indes nicht ein, soweit die Einbehaltensanordnung aufgehoben wurde (vgl. Dau/Schütz, WDO, 7. Aufl. 2015, § 127 Rn. 2 m.w.N.).
Gemäß § 126 Abs. 2 Satz 1 WDO kann die Einleitungsbehörde – wie hier in der Einleitungsverfügung vom 4. November 2019 – gleichzeitig mit einer vorläufigen Dienstenthebung nach § 126 Abs. 1 WDO oder später anordnen, dass dem Soldaten ein Teil, höchstens die Hälfte der jeweiligen Dienstbezüge einbehalten wird, wenn im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich auf Entfernung aus dem Dienstverhältnis oder Aberkennung des Ruhegehalts erkannt werden wird. Tritt der Soldat während des gerichtlichen Disziplinarverfahrens in den Ruhestand, hebt die Einleitungsbehörde gemäß § 126 Abs. 2 Satz 2 WDO ihre Anordnung über die Einbehaltung der Dienstbezüge auf; gleichzeitig kann sie anordnen, dass ein Teil des Ruhegehalts einbehalten wird.
Formelle und materielle Anforderungen an die Einbehaltensanordnung nach § 126 WDO (Rn. 16,17)
Sie ist formell ordnungsgemäß. Insbesondere wurde sie in der Einleitungsverfügung unter Berücksichtigung der ergänzenden Erwägungen der Einleitungsbehörde im Bescheid vom 5. Dezember 2019 und der sie gemäß § 81 Abs. 2 Satz 1 WDO analog im Beschwerdeverfahren vertretenden Wehrdisziplinaranwaltschaft in der Beschwerdebegründung ausreichend begründet (vgl. §§ 39, 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwVfG).
In materieller Hinsicht setzt eine Einbehaltensanordnung nach § 126 Abs. 2 Satz 1 WDO neben einer rechtswirksamen Einleitungsverfügung voraus, dass im gerichtlichen Disziplinarverfahren voraussichtlich auf die Höchstmaßnahme erkannt werden wird. Zudem muss das behördliche Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt worden sein.
Inhalt des Zurückhaltungsgebots nach § 10 VI SG (Rn. 26)
Nach § 10 Abs. 6 SG haben Offiziere und Unteroffiziere innerhalb und außerhalb des Dienstes bei ihren Äußerungen die Zurückhaltung zu wahren, die erforderlich ist, um das Vertrauen als Vorgesetzte zu erhalten. Diese Regelung schränkt als allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 Abs. 2 GG die Meinungsäußerungsfreiheit von Soldaten zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Bundeswehr (Art. 17a Abs. 1 GG) ein (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 28. April 2007 – 2 BvR 71/07 – BVerfGK 11, 82 <86 f.> Rn. 12 ff.), wobei sie aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung der Meinungsfreiheit ihrerseits wiederum einschränkend auszulegen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juli 2020 – 2 WD 15.19 – NVwZ-RR 2020, 1039 Rn. 23).
Anforderungen an die Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht nach § 17 II 3 SG (Rn. 37, 38)
Eine solche ernsthafte Beeinträchtigung ist regelmäßig anzunehmen, wenn eine Straftat begangen wird, die mit einer Freiheitsstrafe im mittleren Bereich sanktioniert werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Oktober 2020 – 2 WD 20.19 – juris Rn. 21 m.w.N.). Dies ist bei dem vom Vorwurf 3 umfassten Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte nach § 113 Abs. 1 StGB der Fall.
Ermöglicht die Sanktionsdrohung der Strafrechtsnorm – wie bei den ferner vorgeworfenen Beleidigungen der Polizeibeamten (§ 185 StGB) und der vorsätzlichen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 StGB) – noch keine Freiheitsstrafe im mittleren Bereich, bedarf es zur Begründung einer allein aus Zweifeln an der Rechtstreue des betreffenden Soldaten resultierenden Disziplinarwürdigkeit außerdienstlichen Fehlverhaltens zusätzlicher Umstände (vgl. BVerwG, Urteile vom 24. August 2018 – 2 WD 3.18 – BVerwGE 163, 16 Rn. 53 und vom 16. Januar 2020 – 2 WD 2.19 – Buchholz 450.2 § 18 WDO 2002 Nr. 1 Rn. 21).
Disziplinarwürdigkeit einer außerdienstlichen Trunkenheitsfahrt (Rn. 40)
Was die vorsätzliche außerdienstliche Trunkenheitsfahrt anbelangt, so lässt die Art und Weise, wie ein Soldat am Straßenverkehr teilnimmt, Rückschlüsse auf sein Verantwortungsbewusstsein, seine charakterliche Zuverlässigkeit und moralische Integrität zu. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist daher selbst eine nur fahrlässig begangene außerdienstliche Trunkenheitsfahrt eines Soldaten am Steuer seines privaten Personenkraftwagens als ein nicht leichtzunehmender Pflichtenverstoß zu werten. Wegen der Gefährdung von Leben, Gesundheit und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer ist sie vielmehr geeignet, die Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit eines Soldaten ernsthaft zu beeinträchtigen (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. Februar 1999 – 2 WD 33.98 – Buchholz 236.1 § 17 SG Nr. 25 m.w.N. und vom 16. Oktober 2002 – 2 WD 23.01 und 2 WD 32.02 – BVerwGE 117, 117 Rn. 14). Bei der hier vorgeworfenen vorsätzlichen außerdienstlichen Trunkenheitsfahrt im Zustand absoluter Fahruntüchtigkeit, die ab einem Blutalkoholkonzentrationswert von 1,1 Promille unwiderlegbar angenommen wird (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 316 Rn. 25 m.w.N.), gilt dies umso mehr.
Voraussetzungen der Maßnahmenmilderung nach § 21 StGB (Rn. 49)
Allein der Umstand, dass der frühere Soldat in erheblichem Umfang Alkohol konsumiert hat, führt aber noch nicht zu einer Maßnahmemilderung. Denn ein Soldat ist grundsätzlich für Art und Umfang seines Alkoholkonsums selbst verantwortlich und hat ihn einzustellen, bevor es zu einer alkoholbedingten Enthemmung kommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Juli 2020 – 2 WDB 5.20 – juris Rn. 42 m.w.N.). Bei einer alkoholbedingten Einschränkung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit „kann“ zwar das Wehrdienstgericht entsprechend § 21 StGB eine mildere Maßnahme verhängen. Dies kommt regelmäßig in Betracht, wenn ein Soldat aufgrund einer Alkoholabhängigkeit seinen Alkoholkonsum nur eingeschränkt steuern kann und daher für eine dadurch verursachte Einschränkung der Steuerungsfähigkeit nicht voll verantwortlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Juni 2019 – 2 WD 21.18 – Buchholz 450.2 § 38 WDO 2002 Nr. 65 Rn. 35 m.w.N.).
Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WDB 9.20
BVerwG 2 WDB 9.20
TDG Nord 2. Kammer – 15.07.2020 – AZ: TDG N 2 GL 7/19