Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Rechtsbeschwerde nach der Wehrdisziplinarordnung – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 27. Februar 2020 – BVerwG 1 WRB 1.19

Leitsatz:

Disziplinarvorgesetzte müssen durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür Sorge tragen, dass schriftliche Beschwerden bis zum Ablauf der Beschwerdefrist um 24 Uhr eingelegt werden können. Andernfalls kann die Berufung auf den Fristablauf treuwidrig sein und gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung

Beschwerdefrist nach § 6 I WBO (Rn. 10)

Gemäß § 6 Abs. 1 WBO darf die Beschwerde frühestens nach Ablauf einer Nacht und muss innerhalb eines Monats eingelegt werden, nachdem der Beschwerdeführer von dem Beschwerdeanlass Kenntnis erhalten hat. Kenntnis vom Beschwerdeanlass hat der Antragsteller dadurch erhalten, dass ihm die Disziplinarverfügung vom 29. März 2018 am selben Tag durch Aushändigung einer Abschrift dienstlich bekannt gegeben wurde (§ 37 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 3 WDO). Dass er die Unterschrift verweigerte, steht der Bekanntgabe nicht entgegen. Für die Bekanntgabe kommt es nicht auf eine solche Unterschrift, sondern auf den tatsächlichen Erhalt an.

Voraussetzungen an den Zugang der schriftlichen Beschwerde (Rn. 11)

Für den fristgerechten Eingang einer schriftlichen Beschwerde genügt es zwar, dass sie vor Ablauf der Beschwerdefrist in den Empfangsbereich und damit in die Verfügungsgewalt des für die Beschwerde zuständigen Disziplinarvorgesetzten gelangt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 2008 – 1 WB 1.08 – Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 73 Rn. 21 ff.). Es ist auch nicht erforderlich, dass der Dienststellenleiter von der Beschwerde persönlich Kenntnis nimmt. Vielmehr genügt es, wenn die Beschwerde beispielsweise durch Abgabe beim Kompaniefeldwebel in die Verfügungsgewalt der Dienststelle gelangt (BVerwG, Beschluss vom 27. Februar 2003 – 1 WB 39.02 – BVerwGE 118, 21 <24>). Entscheidend ist, dass die betreffende Person nach innerdienstlicher Weisung oder Übung zur Entgegennahme von Schreiben für die Dienststelle befugt sein muss und sich damit – wie etwa ein S1-Offizier auf Bataillonsebene – gleichsam als „verlängerter Arm“ des Vorgesetzten in Rechtsbehelfsangelegenheiten darstellt (BVerwG, Beschluss vom 15. Juli 2008 – 1 WB 1.08 – Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 73 Rn. 21 f.). Wird durch Organisationsverfügung einer höheren militärischen Dienststelle für den Bereich einer Kaserne eine Zentrale Post- und Kurierstelle eingerichtet, kann auch über diesen „verlängerten Arm“ mit Rechtswirkung für den nächsten Disziplinarvorgesetzten eine Beschwerde fristwahrend eingelegt werden (BVerwG, Beschluss vom 19. Juli 2018 – 1 WB 30.17 – Buchholz 450.1 § 5 WBO Nr. 3 Rn. 33).

Zugang einer Beschwerde nach dem Grundsatz von Treu und Glauben im Sinne des § 242 BGB (Rn. 14 f.)

Einer weiteren Aufklärung dieser Tatsachen bedarf es jedoch nicht, weil sich der Kommodore die Entgegennahme und Quittierung des Beschwerdeschreibens durch den Offizier vom Wachdienst jedenfalls nach dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben zurechnen lassen muss. Nach § 242 BGB kann sich der Adressat einer empfangsbedürftigen Willenserklärung nicht auf deren verspäteten Zugang berufen, wenn er die Verzögerung wegen einer in seinem Verantwortungsbereich liegenden Ursache selbst zu vertreten hat. Wer mit dem Zugang rechtserheblicher Erklärungen rechnen muss, hat geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit die Erklärungen ihn rechtzeitig erreichen können. Verletzt der Empfänger diese Obliegenheit, kann er sich nach Treu und Glauben nicht auf einen dadurch bewirkten Fristablauf berufen. Dies gilt jedenfalls, wenn der Erklärende aus seiner Sicht alles Erforderliche und ihm Zumutbare getan hat, damit seine Erklärung den Adressaten erreichen konnte (vgl. BGH, Urteil vom 26. November 1997 – VIII ZR 22/97 – BGHZ 137, 205 <209>; Ellenberger, in: Palandt, BGB, 79. Aufl. 2020, § 130 Rn. 18; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, BGB, Stand April 2018, § 242 Rn. 453 f.).

Diese Grundsätze gelten auch im Wehrbeschwerderecht. Der zuständige Disziplinarvorgesetzte muss durch eine geeignete Organisation sicherstellen, dass der einzelne Soldat sein Beschwerderecht nach § 6 WBO (hier i.V.m. § 42 WDO) während der gesamten Monatsfrist und insbesondere noch am letzten Tag ausüben kann. Da der Soldat berechtigt ist, sich in jeder Lage des Verfahrens durch einen Verteidiger vertreten zu lassen, muss auch dem Verteidiger grundsätzlich die Möglichkeit zur Einlegung schriftlicher Beschwerden eröffnet werden. Wenn der zuständige Disziplinarvorgesetzte oder sein Stab nicht mehr im Dienst ist, muss er durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür Sorge tragen, dass schriftliche Beschwerden noch bis zum Ablauf der Beschwerdefrist eingelegt werden können.

Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG im Beschwerdeverfahren (Rn. 16)

Dies folgt auch aus der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. Nach diesem verfassungsrechtlichen Grundsatz darf der Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2009 – 2 BvR 758/07 – BVerfGE 125, 104 <137>). Die Gerichte sind verpflichtet, geeignete Vorkehrungen zu treffen, um den Rechtssuchenden eine volle Ausnutzung der Rechtsmittelfrist zu ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 3. Oktober 1979 – 1 BvR 726/78 – BVerfGE 52, 203 <209> und vom 4. Mai 1977 – 2 BvR 616/75 – BVerfGE 44, 302 <306>). Dasselbe gilt auch für Verwaltungsbehörden, gegen deren Bescheide fristgebundene Rechtsmittel zulässig sind (BVerwG, Urteil vom 13. März 1962 – 1 C 158.60 – Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 17). Wird eine Rechtsbehelfsschrift nachweislich vor 24 Uhr am letzten Tag der Frist in einen zur Entgegennahme von Behördenpost bestimmten Briefkasten der zuständigen Behörde eingeworfen, so ist die Frist gewahrt, auch wenn der Einwurf nicht in einen sogenannten Nachtbriefkasten erfolgte (BVerwG, Urteil vom 12. Februar 1964 – 4 C 95.63 – BVerwGE 18, 51 <52>). Da auch eine wehrdienstgerichtliche Entscheidung über eine Disziplinarbuße nicht ohne vorherige Erhebung der Beschwerde ergehen kann, gelten diese in der Rechtsschutzgarantie und im Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) wurzelnden Organisationspflichten auch im Wehrbeschwerdeverfahren. Dementsprechend muss auch ein Disziplinarvorgesetzter die schriftliche Beschwerdeeinlegung bis zum letzten Tag und zur letzten Stunde der Beschwerdefrist des § 6 Abs. 1 WBO ermöglichen.

Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WRB 1.19

BVerwG 2 WRB 1.19
TDG Süd 1. Kammer – 13.11.2018 – AZ: TDG S 1 BLc 2/18 und TDG S 1 RL 1/18

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner