Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Rechtsbeschwerde nach der Wehrdisziplinarordnung – Beschluss des 2. Wehrdienstsenats vom 02. Juli 2020 – BVerwG 1 WRB 1.20
Leitsatz:
Die Formwirksamkeit einer Beschwerde ist eine Sachentscheidungsvoraussetzung und im Unterschied zur Fristwahrung im gerichtlichen Verfahren von Amts wegen zu prüfen.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung
Verfahrensrüge und Sachrüge im Rahmen der Rechtsbeschwerde (Rn. 8 f.)
Sie ist zwar zulässig. Die Rechtsbeschwerde ist innerhalb eines Monats nach ihrer Zulassung begründet worden (§ 22b Abs. 5 Satz 2 WBO). Sie enthält allerdings keine Verfahrensrügen, sondern nur die allgemeine Sachrüge. In der Begründung der Rechtsbeschwerde entscheidet der Beschwerdeführer darüber, ob er sich auf die im Zulassungsverfahren geltend gemachte Verfahrensrüge stützt, weitere Verfahrensrügen erhebt oder nur eine Überprüfung der Rechtsanwendung des Truppendienstgerichts im Rahmen der allgemeinen Sachrüge erstrebt. Für die Geltendmachung der Sachrüge genügt der Vortrag, dass die angefochtene Entscheidung des Truppendienstgerichts auf einer unrichtigen Anwendung von Rechtsnormen beruht (BVerwG, Beschluss vom 27. August 2013 – 1 WRB 1.12 – juris Rn. 30 m.w.N.). Nur Letzteres ist hier geschehen.
Wird eine Verfahrensrüge erhoben, sind nach § 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i.V.m. § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO die Tatsachen zu bezeichnen, die den Verfahrensmangel ergeben sollen (BVerwG, Beschluss vom 5. August 2015 – 2 WRB 4.14 – juris Rn. 22). Dafür kann zwar eine Bezugnahme auf eine bereits im Zulassungsverfahren ausreichend geltend gemachte Verfahrensrüge genügen (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 – 5 C 9.11 – juris Rn. 11). Eine solche Bezugnahme auf die im Zulassungsverfahren erhobene Gehörsrüge ist hier indessen nicht erfolgt. Auch ist keine Zurückverweisung zur Behebung des Gehörsverstoßes und zu einer weiteren Aufklärung des Falles beantragt worden. Damit ist allein die allgemeine Sachrüge Gegenstand des Rechtsbeschwerdeverfahrens.
Kein Erfolg einer Sachrüge, die auf anderweitige Tatsachenfeststellung abzielt (Rn. 10 f.)
Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet. Die vom Beschwerdeführer erhobene Sachrüge greift nicht durch. Die Rechtsbeschwerde dient der rechtlichen Überprüfung truppendienstgerichtlicher Entscheidungen. Daher ist das Bundesverwaltungsgericht im Rechtsbeschwerdeverfahren ebenso wie in der Revision an die tatsächlichen Feststellungen der angegriffenen Entscheidungen gebunden, wenn dagegen keine durchgreifenden Verfahrensrügen vorgetragen werden (§ 23a Abs. 2 Satz 1 WBO i.V.m. § 137 Abs. 2 VwGO). Aus dieser Bindungswirkung folgt, dass das Rechtsbeschwerdegericht seine eigene Beweiswürdigung nicht an die Stelle der Beweiswürdigung des Tatsachengerichts stellen darf. Daher kann eine allgemeine Sachrüge, die auf eine anderweitige Tatsachenfeststellung abzielt, aus Rechtsgründen keinen Erfolg haben.
Etwas Anderes könnte nur gelten, wenn eine Umdeutung des Vorbringens des Beschwerdeführers in eine gegen die Beweiswürdigung gerichtete Verfahrensrüge möglich wäre. Ein revisibler Verfahrensfehler bei der richterlichen Überzeugungsbildung liegt allerdings nur vor, wenn die Beweiswürdigung des Truppendienstgerichts die rechtlichen Grenzen des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (§ 91 Abs. 1 Satz 1 WDO i.V.m. § 261 StPO) überschreitet. Das ist insbesondere der Fall, wenn ein Tatsachengericht nicht alle Beweismittel erschöpft, evident aktenwidrige Feststellungen trifft oder gesetzliche Beweisregeln, allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze missachtet. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist hingegen nicht schon dann in einer revisionsgerichtlich beachtlichen Weise verletzt, wenn auch eine inhaltlich andere Überzeugung möglich gewesen wäre (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juli 2010 – 6 C 22.09 – BVerwGE 137, 275 Rn. 35 f.; Beschluss vom 24. Juli 2018 – 6 B 75.17 – Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 201 Rn. 9 f. zu § 108 Abs. 1 VwGO; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 337 Rn. 26 ff.).
Schriftformerfordernis der Wehrbeschwerde (Rn. 14)
Nach § 6 Abs. 2 WBO kann eine Beschwerde entweder mündlich zur Niederschrift oder schriftlich erhoben werden. Dem Schriftformerfordernis genügt eine elektronische Einlegung durch einfache E-Mail nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 2010 – 1 WNB 4.10 – juris Rn. 4). Zwar kann eine Beschwerde unter den in § 3a VwVfG genannten Voraussetzungen auch elektronisch erhoben werden. Denn diese Vorschrift gilt nach § 79 VwVfG auch für förmliche Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte ergänzend, soweit gesetzlich nichts Anderes bestimmt ist. Außerdem war es der Wille des Gesetzgebers, mit dieser Vorschrift in allen Fachgebieten und jeder Verfahrensart des Bundes elektronische Kommunikationsformen gleichberechtigt neben der Schriftform zum Einsatz zu bringen (BT-Drs. 14/9000 S. 26). Deswegen hat das Bundesverwaltungsgericht die Einlegung eines Widerspruchs durch einen qualifiziert signierten E-Mail-Anhang auch schon vor der gesetzlichen Klarstellung in § 70 Abs. 1 VwGO für zulässig erachtet (BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2016 – 6 C 12.15 – Buchholz 442.2 Rundfunkrecht Nr. 78 Rn. 18). Der Einlegung einer Beschwerde durch eine sichere elektronische Kommunikationsform im Sinne des § 3a VwVfG stehen auch keine Besonderheiten des Beschwerderechts entgegen. Da die Anordnung der Schriftform in § 6 Abs. 2 WBO bereits seit 1972 besteht und damals eine elektronische Einlegung nicht zur Verfügung gestanden hat, kann die mangelnde Erwähnung einer elektronischen Einlegung nicht als bewusster Ausschluss dieser Kommunikationsform interpretiert werden (vgl. Dau/Scheuren, WBO, 7. Aufl. 2020, § 6 Rn. 35).
Allerdings genügt die einfache E-Mail des Beschwerdeführers nicht den Anforderungen des § 3a VwVfG an eine sichere elektronische Form. Dabei ist schon fraglich, ob der Chef des Stabes der … im Sinne des § 3a Abs. 1 VwVfG ausdrücklich oder konkludent einen Zugang für die Übermittlung elektronischer schriftformersetzender Dokumente eröffnet hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2016 – 6 C 12.15 – Buchholz 442.2 Rundfunkrecht Nr. 78 Rn. 18). Jedenfalls kann nach § 3a Abs. 2 Satz 2 VwVfG die Schriftform nur durch ein elektronisches Dokument ersetzt werden, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist.
Voraussetzungen der Heilung eines Formmangels der Rechtsbeschwerde (Rn. 16)
Der Formmangel ist auch nicht im Beschwerdeverfahren geheilt worden. Dies hätte nur durch Nachreichung einer formgerechten schriftlichen oder qualifiziert signierten elektronischen Beschwerde erfolgen können. Nicht ausreichend ist, dass im vorliegenden Fall keine Zweifel am Beschwerdewillen und an der Urheberschaft des Soldaten bestanden haben. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Rechtsprechung zwar bestimmte Mängel der Schriftform für unerheblich angesehen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2019 – 1 WB 28.17 – BVerwGE 164, 304 Rn. 16 m.w.N.). Dies kann aber nicht gelten, wenn – wie hier – mit einer einfachen E-Mail eine elektronische Einlegungsform gewählt wird, die das Gesetz gerade aus Gründen der Rechtssicherheit bewusst nicht zugelassen hat. Ansonsten würde das Erfordernis einer qualifizierten elektronischen Signatur oder einer sonstigen sicheren elektronischen Übertragung unterlaufen. Mit den in § 3a VwVfG enthaltenen Sicherheitserfordernissen ist auch keine unzumutbare Erschwerung der Rechtsverfolgung verbunden, auch wenn deren Einhaltung ein nicht generell vorhandenes technisches Equipment voraussetzt. Denn § 6 Abs. 2 WBO lässt mit der schriftlichen oder mündlichen Einlegung zur Niederschrift auch andere einfache und allgemein zugängliche Wege der Beschwerdeerhebung zu.
Den Beschwerdeführer entlastet es schließlich nicht, dass er auf den Formmangel von seinem Disziplinarvorgesetzten nicht rechtzeitig gemäß § 25 Abs. 1 VwVfG hingewiesen worden ist. Die Regelungen über die Formen und Fristen einer Beschwerde gegen truppendienstgerichtliche Erstmaßnahmen können als jedem Soldaten bekannt vorausgesetzt werden, weil eine umfangreiche Belehrung darüber Gegenstand der militärischen Ausbildung ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 25. April 1974 – 1 WB 47.73 – BVerwGE 46, 251 <251 f.> und vom 4. Mai 2017 – 1 WB 5.16 – Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 95 Rn. 38).
Formwirksame Beschwerde als Sachentscheidungsvoraussetzung im Beschwerdeverfahren (Rn. 19 ff.)
Das Vorliegen einer formwirksamen Beschwerde ist eine Sachentscheidungsvoraussetzung und somit auch im gerichtlichen Verfahren zu prüfen. Denn ohne formwirksame Beschwerde fehlt es an einer grundlegenden Voraussetzung für das Tätigwerden der Beschwerdestelle und für die anschließende gerichtliche Überprüfung. Fehlt eine wirksame Beschwerde, sind weder die Beschwerdestelle noch das Gericht zu einer Entscheidung befugt. Da ihre Kontrollkompetenz wesentlich vom Vorliegen und vom Inhalt der Beschwerde abhängt, haben sich nach der bisherigen Rechtsprechung sowohl die Beschwerdestelle als auch das Gericht über das Vorliegen einer formwirksamen Beschwerde von Amts wegen zu vergewissern (BVerwG, Beschluss vom 26. Oktober 2010 – 1 WNB 4.10 – juris Rn. 12 m.w.N.).
Daran ist festzuhalten. Für das Erfordernis einer Prüfung im gerichtlichen Verfahren spricht bereits der Wortlaut des § 17 Abs. 1 WBO, der die Zuständigkeit der Wehrdienstgerichte an das Vorliegen einer Beschwerde in Bezug auf bestimmte in der Wehrbeschwerdeordnung genannte Rechte und Pflichten (sog. truppendienstgerichtliche Angelegenheiten) knüpft. Mit der in § 17 Abs. 1 WBO genannten Beschwerde kann aber nur die formgerechte Beschwerde gemeint sein. Denn die Funktion der Wehrbeschwerde als Vorschaltrechtsbehelf eines Gerichtsverfahrens macht es erforderlich, dass ihre Einlegung und ihr Inhalt förmlich dokumentiert sind. Nur dies entspricht dem Gebot der Rechtsklarheit prozessrechtlich relevanter Erklärungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Juni 1988 – 6 C 24.87 – Buchholz 448.6 § 18 KDVG Nr. 2 S. 3).
Dabei stellen die Schriftform, die Niederschrift mündlicher Beschwerden und die qualifizierte elektronische Signatur insbesondere sicher, dass die Identität des Erklärenden festgestellt werden kann (Identitätsfunktion), dass die Echtheit der Erklärung überprüft werden kann (Authentizitätsfunktion), dass die Vollständigkeit der Erklärung gesichert wird (Abschlussfunktion), dass der gesamte Inhalt bewiesen werden kann (Beweisfunktion) und dass der Erklärende sich der rechtlichen Verbindlichkeit seiner Erklärung bewusst wird (Warnfunktion) und auf diese Weise vor Übereilung geschützt ist (BT-Drs. 14/9000 S. 31). Die Formvorschriften bewirken zugleich, dass die förmliche Wehrbeschwerde leichter von einer formlosen Kritik, von einer auf eine rein behördeninterne Nachprüfung gerichteten Gegenvorstellung oder einer Aufsichtsbeschwerde abgegrenzt werden kann. Ferner erleichtern sie es den Beschwerdestellen und den Gerichten, den inhaltlichen Gegenstand des vom Soldaten gewünschten Kontrollverfahrens zu bestimmen.
Da die Formvorschriften dem Übereilungsschutz und der Rechtsklarheit im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren dienen, steht ihre Einhaltung nicht zur Disposition der Beschwerdestelle. Sie unterliegt deshalb auch der Überprüfung im Gerichtsverfahren. Dies entspricht im Übrigen der verwaltungsprozessualen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der die formgerechte Erhebung des Widerspruchs gemäß § 70 Abs. 1 VwGO auch im Gerichtsverfahren voll zu überprüfen ist (BVerwG, Urteile vom 9. Juni 1982 – 6 C 119.81 – Buchholz 448.0 § 33 WPflG Nr. 28 S. 2 und vom 20. Juni 1988 – 6 C 24.87 – Buchholz 448.6 § 18 KDVG Nr. 2 S. 3).
Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Frage der fristgerechten Erhebung einer Beschwerde prozessual anders beurteilt wird. Die Einhaltung der Beschwerdefrist wird vom Wehrdienstgericht nur geprüft, wenn die Beschwerdestelle die Beschwerde deswegen zurückgewiesen hat (BVerwG, Beschluss vom 31. August 2017 – 1 WRB 1.16 – Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 96 Rn. 18) oder wenn bei einer dienstlichen Maßnahme mit dem Ablauf der Beschwerdefrist zu Gunsten eines Dritten Bestandskraft eingetreten ist (BVerwG, Beschluss vom 27. November 2014 – 1 WB 61.13 – Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 91 Rn. 38 f.). Diese Einschränkung der gerichtlichen Kontrolle hat ihren Grund darin, dass die fristgerechte Erhebung der Beschwerde keine Prozessvoraussetzung ist. § 17 Abs. 1 Satz 1 WBO setzt für den Antrag auf gerichtliche Entscheidung allein die Erfolglosigkeit, nicht aber die Rechtzeitigkeit des vorangegangenen Beschwerdeverfahrens voraus (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. August 2017 – 1 WRB 1.16 – Buchholz 450.1 § 17 WBO Nr. 96 Rn. 18). Im Unterschied dazu ist das Vorhandensein einer Beschwerde in § 17 Abs. 1 WBO ausdrücklich erwähnt. Das Vorliegen einer formgerechten Beschwerde ist auch grundlegende Voraussetzung dafür, dass die Entscheidungsbefugnis auf die Beschwerdestelle und später auf das Gericht übergeht. Demgegenüber ist die Frage der Fristversäumnis nicht in gleicher Weise essenziell für das nachfolgende behördliche und gerichtliche Verfahren, weil sie lediglich für deren Prüfungsrahmen von Einfluss ist. Dies kann im Beschwerderecht ebenso wie im Widerspruchsrecht (§ 70 Abs. 1 VwGO) eine weniger weitgehende gerichtliche Nachprüfung der Frist rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. August 1982 – 4 C 42.79 – Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 49 und Beschluss vom 12. Oktober 2006 – 8 B 21.06 – Buchholz 428 § 36 VermG Nr. 10 Rn. 3).
Volltext der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WRB 1.20
BVerwG 2 WRB 1.20
TDG Süd 3. Kammer – 07.11.2019 – AZ: TDG S 3 BLc 9/18 und S 3 RL 04/19
Bundesverwaltungsgericht – 15.04.2020 – AZ: BVerwG 2 WNB 4.20