Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 3. Dezember 2020 – BVerwG 2 WD 4.20

Leitsätze:

  1. In einem maßnahmebeschränkten wehrdisziplinargerichtlichen Berufungsverfahren ist das Bundesverwaltungsgericht nicht gehindert, zusätzlich eigene, für die Maßnahmebemessung erhebliche Feststellungen zum Tathergang zu treffen, solange diese
    weder im Widerspruch zu den Tat- und Schuldfeststellungen der Truppendienstkammer stehen noch dadurch deren rechtliche Würdigung in Frage gestellt wird.
  2. Eine andere seelische Abartigkeit i.S.d. § 20 StGB liegt bei einer nicht pathologisch
    bedingten Anpassungs- und Persönlichkeitsstörung nur vor, wenn sie in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkommt und Symptome aufweist,
    die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen
    Folgen stören, belasten oder einengen.

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Möglichkeit zu weiteren Feststellungen zum Tathergang neben bindenden Entscheidungen (Rn. 18)

Allerdings ist der Senat nicht gehindert, zusätzlich eigene, für die Maßnahmebemessung erhebliche Feststellungen zum Tathergang zu treffen, solange diese weder im Widerspruch zu den Tat- und Schuldfeststellungen der Truppendienstkammer stehen noch dadurch deren rechtliche Würdigung in Frage gestellt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2015 – 2 WD 7.14 – juris Rn. 32 f.).

Regelmaßnahme bei eigenmächtiger Abwesenheit (Rn. 21, 22)

Das gemäß § 18 Abs. 2 WDO einheitlich zu ahndende Dienstvergehen wird in erster Linie durch die beiden eigenmächtigen Abwesenheiten i. S. d. § 15 WStG geprägt. Diese wiegen äußerst schwer. Denn ein Soldat, welcher der Truppe unerlaubt fernbleibt, versagt im Kernbereich seiner Dienstpflichten. Die Bundeswehr kann ihre Aufgaben nur dann hinreichend erfüllen, wenn nicht nur das innere Gefüge der Streitkräfte so gestaltet ist, dass sie ihren militärischen Aufgaben gewachsen ist, sondern auch ihre Angehörigen im erforderlichen Maße jederzeit präsent und einsatzbereit sind. Der Dienstherr muss sich darauf verlassen können, dass jeder Soldat seinen Pflichten zur Verwirklichung des Verfassungsauftrags der Bundeswehr nachkommt und alles unterlässt, was dessen konkreter Wahrnehmung zuwiderläuft. Dazu gehören insbesondere die Pflichten zur Anwesenheit und gewissenhaften Dienstleistung. Die Verletzung der Pflicht zur militärischen Dienstleistung berührt nicht nur die Einsatzbereitschaft der Truppe, sie erschüttert auch die Grundlagen des Dienstverhältnisses selbst (BVerwG, Urteil vom 25. Oktober 2018 – 2 WD 8.18 – juris Rn. 20).

In Fällen des vorsätzlichen unerlaubten Fernbleibens eines Soldaten von der Truppe ist Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen aus spezial- und generalpräventiven Gründen bei einer kürzeren unerlaubten Abwesenheit grundsätzlich eine Dienstgradherabsetzung, gegebenenfalls bis in den Mannschaftsdienstgrad; bei länger dauernder, wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht wiegt das Dienstvergehen so schwer, dass es regelmäßig die Entfernung aus dem Dienstverhältnis oder den Ausspruch der sonst gebotenen Höchstmaßnahme indiziert (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Oktober 2020 – 2 WD 22.19 – juris Rn. 13 m.w.N.). Dabei hat der Senat zur Abgrenzung einer kürzeren von einer längeren Abwesenheit den Zeitraum herangezogen, der durch den jährlich zustehenden Urlaubszeitraum von 30 Tagen nach § 1 Satz 1 SoldUrlV i.V.m. § 5 Abs. 1 EUrlV abgedeckt werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Juli 2020 – 2 WD 16.19 – juris Rn. 13 m.w.N.).

Regelmaßnahme bei Zugriff auf Eigentum und Vermögen von Kameraden (Rn. 27)

Disziplinarrechtlich wird ein vorsätzlicher Zugriff auf Eigentum und Vermögen von Kameraden schon für sich genommen im Regelfall mit einer Dienstgradherabsetzung, gegebenenfalls bis in den Mannschaftsdienstgrad, geahndet (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. Oktober 2019 – 2 WD 25.18 – juris Rn. 18 m.w.N.).

Regelmaßnahme bei Zugriff auf das Eigentum des Dienstherrn (Rn. 28)

Ein Berufssoldat, der zu seinem Dienstherrn in einem Verhältnis gegenseitiger Treue steht, macht sich eines erheblichen Vertrauensbruchs schuldig, wenn er sich an dessen Eigentum vergreift. Denn die Bundeswehr ist auf die Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit ihrer Soldaten beim Umgang mit öffentlichem Gut in hohem Maße angewiesen, vor allem mit besonders schutzwürdigen Gegenständen wie Munition, weil insoweit eine lückenlose Kontrolle jedes einzelnen Soldaten nicht möglich ist. Ein Vorgesetzter disqualifiziert sich regelmäßig durch die Aneignung von Munition so nachhaltig, dass nach gefestigter Rechtsprechung des Senats schon bei isolierter Betrachtung im Regelfall eine Dienstgradherabsetzung bis in einen Mannschaftsdienstgrad geboten ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Februar 2003 – 2 WD 35.02 – Buchholz 236.1 § 17 SG Nr. 39 Rn. 11 m.w.N.).

Voraussetzungen des Eingangsmerkmals des § 20 StGB „andere seelische Abartigkeit“ (Rn. 51)

Dieser Befund begründet aber noch keine schwere andere seelische Abartigkeit, die hier als Eingangsmerkmal i.S.d. § 20 StGB allein in Betracht kommt. Eine solche liegt bei einer nicht pathologisch bedingten Anpassungs- und Persönlichkeitsstörung nur vor, wenn sie in ihrem Gewicht einer krankhaften seelischen Störung gleichkommt und Symptome aufweist, die in ihrer Gesamtheit das Leben des Täters vergleichbar schwer und mit ähnlichen Folgen stören, belasten oder einengen (vgl. BGH, Urteile vom 26. April 2007 – 4 StR 7/07 – juris Rn. 7 m.w.N., vom 25. Oktober 2017 – 5 StR 72/17 – juris Rn. 19 und BVerwG, Urteil vom 16. Februar 2017 – 2 WD 14.16 – juris Rn. 34). Danach ist eine Gesamtschau auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeschuldigten und deren Entwicklung, der Vorgeschichte, dem unmittelbaren Anlass und der Ausführung der Tat sowie seines Verhaltens nach der Tat erforderlich. Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass für die Schwere der Persönlichkeitsstörung maßgebend ist, ob es im Alltag außerhalb des angeklagten Delikts zu Einschränkungen des beruflichen und sozialen Handlungsvermögens gekommen ist. Erst wenn ein entsprechendes Muster des Denkens, Fühlens oder Verhaltens sich im Zeitverlauf als stabil erwiesen hat, können die psychiatrischen Voraussetzungen vorliegen, die rechtlich als Merkmal der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ angesehen werden. Da es sich bei einer Anpassungsstörung und einer „narzisstischen Persönlichkeit(sstörung)“ bzw. einer „deutlich narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung“ um ein eher unspezifisches Störungsbild handelt, das immer noch als – möglicherweise extreme – Spielart menschlichen Wesens einzuordnen ist, ist dies erst dann der Fall, wenn der Täter aus einem mehr oder weniger unwiderstehlichen Zwang heraus gehandelt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juni 2020 – 2 StR 568/19 – juris Rn. 13).

Volltextveröffentlichung der Entscheidung auf der Website des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 4.20

BVerwG 2 WD 4.20
TDG Süd 4. Kammer – 23.10.2019 – AZ: TDG S 4 VL 18/18

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