Bundesverwaltungsgericht entscheidet über eine Berufung nach der Wehrdisziplinarordnung (WDO) – Urteil des 2. Wehrdienstsenats vom 13. Januar 2022 – BVerwG 2 WD 4.21
Leitsätze
- Die Mitwirkung eines Richters in einem gerichtlichen Antragsverfahren nach § 17
WBO begründet keinen Ausschlussgrund nach § 77 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c WDO. - Beleidigende Äußerungen von Soldaten sind disziplinarisch nicht relevant, wenn
sie den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Vertraulichkeit der Kommunikation genießen.
Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung
Disziplinare Ahndung von Beleidigungen von Vorgesetzten im engsten Freundes-/Familienkreis (Rn. 48 ff.)
Darin liegt keine Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG. Gegen diese Pflicht kann zwar auch durch nach § 185 StGB strafbare Beleidigungen von Vorgesetzten verstoßen werden. Solche außerdienstlichen Äußerungen erlangen ungeachtet des niedrigen Strafrahmens (Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe) disziplinarische Relevanz, weil qualifizierende Umstände – wiederholtes Handeln und Amtsträgerschaft der Beteiligten – hinzutreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. August 2018 – 2 WD 3.18 – BVerwGE 163, 16 Rn. 55). Das öffentliche Interesse an Strafverfolgung und disziplinarer Ahndung von Vorgesetztenbeleidigungen muss jedoch ausnahmsweise zurücktreten, wenn die ehrverletzenden Äußerungen ohne echten Kundgabewillen nur im engsten Familien- oder Freundeskreis gefallen sind und wenn der Betroffene aufgrund der besonderen Vertrautheit der Beteiligten und der Vertraulichkeit der Gesamtumstände nicht mit einem Bekanntwerden seiner Äußerung rechnen muss. Denn in diesen Fällen fordern die auch dem Soldaten nach § 6 Satz 1 SG zustehenden Grundrechte auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG) und freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) dass die Vertraulichkeit der Kommunikation respektiert wird und eine staatliche Sanktion unterbleibt.
Zum einen gibt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. März 2021 – 2 BvR 194/20 – juris Rn. 30 m.w.N.). Zum anderen gewährleistet Art. 2 Abs. 1 GG die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Zu den Bedingungen der Persönlichkeitsentfaltung gehört es, dass der Einzelne einen Raum besitzt, in dem er unbeobachtet sich selbst überlassen ist oder mit Personen seines besonderen Vertrauens ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen verkehren kann. Aus der Bedeutung einer solchen Rückzugsmöglichkeit für die Persönlichkeitsentfaltung folgt, dass der Schutz des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auch die Privatsphäre umfasst.
Am Schutz der Privatsphäre nimmt auch die vertrauliche Kommunikation teil. Gerade bei Äußerungen gegenüber Familienangehörigen und Vertrauenspersonen steht häufig weniger der Aspekt der Meinungskundgabe und die damit angestrebte Einwirkung auf die Meinungsbildung Dritter als der Aspekt der Selbstentfaltung im Vordergrund. Nur unter den Bedingungen besonderer Vertraulichkeit ist dem Einzelnen ein rückhaltloser Ausdruck seiner Emotionen, die Offenbarung geheimer Wünsche oder Ängste, die freimütige Kundgabe des eigenen Urteils über Verhältnisse und Personen oder eine entlastende Selbstdarstellung möglich. Unter solchen Umständen kann es auch zu Äußerungsinhalten oder -formen kommen, die sich der Einzelne gegenüber Außenstehenden oder in der Öffentlichkeit nicht gestatten würde. Gleichwohl verdienen sie als Ausdruck der Persönlichkeit und Bedingung ihrer Entfaltung den Schutz des Grundrechts (BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. März 2021 – 2 BvR 194/20 – NStZ 2021, 439 Rn. 32 m.w.N.).
Daraus folgt, dass bei ehrverletzenden Äußerungen über nicht anwesende Dritte in besonders engen Lebenskreisen eine beleidigungsfreie Sphäre besteht, wenn die Äußerung Ausdruck des besonderen Vertrauens ist und wenn keine begründete Möglichkeit ihrer Weitergabe besteht. Der Schutz der Vertrauenssphäre geht in einem solchen Fall auch dann nicht verloren, wenn sich der Staat – wie etwa bei einer Briefkontrolle bei Strafgefangenen – Kenntnis von vertraulich gemachten Äußerungen verschafft (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. April 1994 – 1 BvR 1689/88 – BVerfGE 90, 255 <261>; Kammerbeschluss vom 23. November 2006 – 1 BvR 285/06 – BVerfGK 9, 442 <444 f.>). Entsprechendes gilt, wenn er – wie hier – im Wege einer Durchsuchung eines Mobilfunkgerätes Kenntnis von vertraulichen Äußerungen erhält.
Der Kreis möglicher Vertrauenspersonen ist dabei nicht auf Eheleute oder Eltern beschränkt, sondern erstreckt sich auf ähnlich enge – auch rein freundschaftliche – Vertrauensverhältnisse. Entscheidend für den grundrechtlichen Schutz der Vertrauensbeziehung ist, dass ein Verhältnis besteht, welches für den Betroffenen in seiner Funktion, ihm einen Raum zu bieten, in dem er ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Verhaltenserwartungen und ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen verkehren kann, dem Verhältnis vergleichbar ist, wie es in der Regel zu Eheleuten, Eltern oder auch anderen Familienangehörigen besteht (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. März 2021 – 2 BvR 194/20 – NStZ 2021, 439 Rn. 34). Ein solches besonderes Näheverhältnis kann auch zwischen Menschen bestehen, die als Mitglieder einer Gruppe Gleichgesinnter mit gemeinsamen Freizeitgewohnheiten („Clique“) befreundet sind. Für junge Menschen sind in der Funktion als Ort entlasteter und entlastender vertrauensvoller Kommunikation häufig gerade Freundschaften dieser Art besonders wichtig (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Juli 2009 – 2 BvR 2186/07 – juris Rn. 18 m.w.N.). Zur Beurteilung, ob im Einzelfall zwischen den an einer Kommunikation Beteiligten ein derartiges Vertrauensverhältnis besteht, sind neben dem Charakter der Vertrauensbeziehung die Art und der Kontext der ehrverletzenden Äußerung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 23. November 2006 – 1 BvR 285/06 – juris Rn. 13 ff.).
Begriff der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des § 8 SG (Rn. 42)
Der Begriff „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in § 8 SG ist identisch mit dem gleichlautenden Begriff, wie er bezogen auf Art. 21 Abs. 2 GG konturiert worden ist. Daraus folgt eine Konzentration auf wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 – BVerfGE 144, 20 Rn. 535). Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffsinhalts ist danach die Würde des Menschen und das Demokratieprinzip, für das die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller am politischen Willensbildungsprozess sowie die Rückbindung der Ausübung von Staatsgewalt an das Volk maßgeblich ist. Schließlich erfasst der Begriff den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Juni 2020 – 2 WD 17.19 – BVerwGE 168, 323 Rn. 37).
Regelmaßnahme bei ausländer- und judenfeindlichen Äußerungen (Rn. 58)
Bei ausländer- und judenfeindlichen Äußerungen, die nicht mit einem Verstoß gegen die politische Treuepflicht verbunden sind, aber die Pflichten zur Zurückhaltung und zum Wohlverhalten verletzen, ist je nach Art und Schwere der Dienstpflichtverletzungen allenfalls ein Beförderungsverbot angezeigt (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2001 – 1 D 55.99 – Buchholz 232 § 52 BBG Nr. 12, S. 20 ff. zu einem Beamten; vom 28. August 2001 – 2 WD 27.01 – Buchholz 236.1 § 10 SG Nr. 47, S. 32 und vom 22. Oktober 2008 – 2 WD 1.08 – BVerwGE 132, 179 Rn. 102 und 123).
Kein Ausschluss eines Richters bei Mitwirkung in früherem gerichtlichen Antragsverfahren nach § 17 WBO (Rn. 22 ff.)
Die Ausschlussgründe sind in § 77 WDO erschöpfend aufgeführt (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. November 1973 – 2 WD 39.73 – BVerwGE 46, 196 <198> und vom 12. Dezember 1980 – 2 WD 64.78 – NZWehrr 1981, 192 Rn. 33, jeweils zu § 71 WDO a.F.). Nach der hier allein in Betracht kommenden Regelung des § 77 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c WDO ist ein Richter oder ein ehrenamtlicher Richter u.a. dann von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen, wenn er in einem früheren, dieselbe Sache betreffenden Beschwerdeverfahren mitgewirkt hat.
Dies ist vorliegend nicht der Fall. Der Beschluss vom 17. Juni 2020 ist nicht in einem Beschwerdeverfahren, sondern in einem gerichtlichen Antragsverfahren nach § 17 WBO ergangen. Nach dieser Regelung kann ein Beschwerdeführer die Entscheidung des Truppendienstgerichts beantragen, wenn er zunächst beim nächsten Disziplinarvorgesetzten eine Beschwerde erhoben hat, welche eine Verletzung seiner Rechte oder der Pflichten eines Vorgesetzten ihm gegenüber zum Gegenstand hat, die in bestimmten Vorschriften geregelt sind, und seine weitere Beschwerde beim nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten erfolglos geblieben oder darüber nicht innerhalb eines Monats entschieden worden ist. Das Verfahren nach § 17 WBO ist nicht Teil des Beschwerde- oder des weiteren Beschwerdeverfahrens, sondern ein eigenständiges, sich daran anschließendes gerichtliches Antragsverfahren. Dementsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht zwischen den in § 17 WBO erwähnten Verfahren der Beschwerde und weiteren Beschwerde einerseits und dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung andererseits unterschieden und klargestellt, dass ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gerade kein „Beschwerdeverfahren“ im Sinne des § 77 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c WDO ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Juni 2005 – 2 BvR 957/04 – juris Rn. 2). Von der Ausübung des Richteramts ausgeschlossen sein sollen nach § 77 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c WDO vielmehr Richter, die zuvor als nächste oder nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte in einem Beschwerde- oder in einem weiteren Beschwerdeverfahren mitgewirkt haben.
Für eine über den Wortlaut der Norm hinausgehende Anwendung auf gerichtliche Antragsverfahren nach § 17 WBO ist kein Raum. Denn § 77 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c WDO ist eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die einer analogen Anwendung auf andere Verfahrensarten nicht zugänglich ist (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Juni 2005 – 2 BvR 957/04 – juris Rn. 3; BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1980 – 2 WD 64.78 – NZWehrr 1981, 192 Rn. 33; Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 77 Rn. 25). Dies gilt auch, wenn die dem Urteil vorausgehende gerichtliche Entscheidung eine summarische Prüfung des zu erwartenden Verfahrensergebnisses verlangt (vgl. BVerwG, Urteile vom 20. November 1973 – 2 WD 39.73 – BVerwGE 46, 196 <197 f.> und vom 12. Dezember 1980 – 2 WD 64.78 – NZWehrr 1981, 192). Eine analoge Auslegung ist nicht erforderlich, um dem Gebot der Unparteilichkeit des Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gerecht zu werden. Dass ein Richter in verschiedenen Verfahren Feststellungen über denselben Lebenssachverhalt zu treffen und dieselben Beweismittel zu beurteilen hat, kommt häufig vor. Die Annahme, dass allein dieser Sachverhalt geeignet sei, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen, ist dem Gesetz fremd (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Juni 2005 – 2 BvR 957/04 – juris Rn. 3).
Voraussetzungen der Nachbewährung (Rn. 66)
Eine Nachbewährung setzt in fachlicher Hinsicht eine deutliche Leistungssteigerung oder die Beibehaltung eines hohen Leistungsniveaus voraus (vgl. BVerwG, Urteile vom 14. Februar 2019 – 2 WD 18.18 – Buchholz 450.2 § 63 WDO 2002 Nr. 3 Rn. 31 m.w.N. und vom 14. Januar 2021 – 2 WD 7.20 – NVwZ-RR 2021, 770 Rn. 37). Zudem muss sich der Soldat während des Verfahrens in jeder Hinsicht ohne Anlass zu Beanstandungen durch seine Vorgesetzten führen (BVerwG, Urteil vom 29. November 2012 – 2 WD 10.12 – juris Rn. 48).
Veröffentlichung der Entscheidung auf der Seite des Bundesverwaltungsgerichts: 2 WD 4.21
BVerwG 2 WD 4.21
TDG Süd 5. Kammer – 25.11.2020 – AZ: TDG S 5 VL 32/20