Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen entscheidet über den Antrag eines nach § 55 Abs. 5 SG entlassenen Soldaten, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen die Entlassungsverfügung wiederherzustellen – Beschluss vom 20. Januar 2005 – 1 B 2009/04

Hervorzuhebende Auszüge aus der Entscheidung:

Verletzung der Dienstpflichten durch Konsum von Cannabis-Produkten (Rn. 17 f.)

Weiter ist in der Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass ein Soldat, der – sei es wiederholt oder auch nur einmalig und sei es innerhalb oder außerhalb des Dienstes – Cannabis-Produkte konsumiert (und hier überdies in diesem Zustand ein Kraftfahrzeug führt), seine Dienstpflichten in welchem Umfang auch immer verletzt. Wegen der einem solchen Verhalten entgegenstehenden ZDv 10/5 Nr. 404 liegt bereits in dem betreffenden Rauschmittelkonsum zum einen ein Verstoß gegen die in § 10 SG bestimmte Gehorsamspflicht, zum anderen wird hierdurch zumindest regelmäßig die nach § 17 Abs. 2 SG bestehende Pflicht des Soldaten verletzt, sich innerhalb und außerhalb des Dienstes so zu verhalten, dass er der Achtung und dem Vertrauen gerecht wird, die sein Dienst als Soldat erfordert. Hinzu kommen kann schließlich auch noch eine Verletzung der Pflicht zum treuen Dienen gemäß § 7 SG, was allerdings letztlich mit davon abhängt, wie die (allgemeinen) Wirkungen auch eines ggf. nur geringen bzw. einmaligen Cannabis-Konsums in Richtung auf etwaige Beeinträchtigungen der militärischen Einsatzbereitschaft des jeweils betroffenen Soldaten wissenschaftlich zutreffend zu bewerten sind.

Vgl. zu Letzterem insbesondere OVG NRW, Urteil vom 26. August 1999 – 12 A 2849/96 -, IÖD 2000, 101, unter Auswertung eines in jenem Verfahren eingeholten Sachverständigengutachtens; allgemein zur Frage der Dienstpflichtverletzung bei Cannabis- bzw. Haschischkonsum von Soldaten auch BVerwG, Urteile vom 17. März 1987 – 2 WD 33.86 -, BVerwGE 83, 291, vom 24. September 1992 – 2 C 17.91 -, BVerwGE 91, 62, und vom 10. August 1994 – 2 WD 24/94 -, NJW 1995, 2240, sowie Beschluss vom 15. März 2000 – 2 B 98.99 -, NVwZ 2000, 1186; OVG Koblenz, Beschluss vom 23. November 1992 – 2 B 12123/92 -, NVwZ-RR 1993, 257; VG Stade, Urteil vom 18. März 2004 – 3 A 1563/03 -, IÖD 2004, 233.

Unerheblichkeit der disziplinarrechtlichen Maßstäbe im Verfahren nach § 55 V SG (Rn. 19 f.)

Ob es sich – etwa nach disziplinarrechtlichen Maßstäben – um einen „schweren“ oder „leichten“ Fall einer Dienstpflichtverletzung handelt und ob in dem jeweils zu beurteilenden Einzelfall verschärfende oder mildernde Umstände hinzutreten, ist im Zusammenhang mit dem Tatbestandsmerkmal der Verletzung von Dienstpflichten in § 55 Abs. 5 SG ohne Belang. Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – 2 C 17.91 -, a.a.O.

Tatbestandsmerkmal der „Ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung (Rn. 24 f.)

Eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung ist regelmäßig zu bejahen, wenn die Einsatzbereitschaft der Soldaten erheblich vermindert und im Gefolge dessen die Verteidigungsbereitschaft der Truppe, d. h. der einzelnen betroffenen Einheit bzw. letztlich auch der Bundeswehr im Ganzen, in Frage gestellt wird. Dabei ist anerkannt, dass gerade auch ein sich in der Bundeswehr unkontrolliert verbreitender Rauschmittelkonsum (auch von Cannabis-Produkten) geeignet ist, diese Gefährdung in dem gesetzlich geforderten Gefährdungsgrad herbeizuführen. In diesem Zusammenhang kann schon der jeweilige Einzelkonsum ausreichen, um als Teilstück einer allgemeinen und überdies schwer zu bekämpfenden Erscheinung disziplinlosen Verhaltens – etwa vor dem Hintergrund eines zu erwartenden breiten Nachahmungseffekts – die in Rede stehende Tatbestandsvoraussetzung zu erfüllen. Vgl. BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – 2 C 17.91 -, a.a.O., und Beschluss vom 15. März 2000 – 2 B 98.99 -, a.a.O.; OVG NRW, Urteil vom 26. August 1999 – 12 A 2849/96 -, a.a.O., sowie Beschlüsse vom 11. Oktober 1994 – 12 B 2183/94 -, vom 6. November 1996 – 12 B 1525/96 – und vom 14. November 1996 – 12 B 1647/96 -; möglicherweise „großzügiger“ Bayerischer VGH, Beschluss vom 31. Januar 2000 – 3 ZB 99.1315 -, IÖD 2000, 99 = NVwZ 2000, 1203.

Eingeschränkter Umfang der Ermessensentscheidung der Behörde im Rahmen der Entlassung nach § 55 V SG (Rn. 31 ff.)

Beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG steht die Entscheidung im pflichtgemäßen Ermessen der für die Entlassung zuständigen Behörde. Es bestehen indes entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keine durchgreifenden Bedenken daran, dass dieses Ermessen hier fehlerfrei ausgeübt worden ist.

Zwar wird das Wort „kann“ im vorliegenden Zusammenhang – soweit ersichtlich – als (echte) Ermessenseinräumung und damit nicht nur als Verdeutlichung der Übertragung einer Kompetenz angesehen. So zumindest im Ergebnis etwa BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 – 2 C 17.91 -, a.a.O.; OVG NRW, Urteil vom 26. August 1999 – 12 A 2849/96 -, a.a.O.

Gleichwohl handelt es sich hierbei nicht um die Einräumung eines „umfassenden“ Ermessens dergestalt, dass die Entlassungsbehörde gewissermaßen – ähnlich wie in einem Disziplinarverfahren – alle für und gegen den Verbleib des Zeitsoldaten im Dienst sprechenden Gesichtspunkte im Rahmen einer Gesamtwürdigung zusammentragen, gewichten und gegeneinander abwägen müsste. Dem stünde nämlich die besondere Zielrichtung bzw. Zweckbestimmung der in Rede stehenden Vorschrift entgegen.

Alleiniger Zweck der fristlosen Entlassung gemäß § 55 Abs. 5 SG ist es, eine – sich im Grunde bereits aus der Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift ergebende – drohende Gefahr für die Bundeswehr abzuwenden. Die fristlose Entlassung soll künftigen Schaden verhindern und dient in diesem Zusammenhang ausschließlich dem Schutz der Bundeswehr. Demgegenüber handelt es sich nicht um eine Disziplinarmaßnahme (bzw. eine vergleichbare Maßnahme). Sonach finden auf sie auch nicht die für Disziplinarmaßnahmen geltenden Grundsätze Anwendung und ist (auch im Übrigen) im Rahmen des § 55 Abs. 5 SG kein Raum für Erwägungen darüber, ob die Sanktion der dienstlichen Verfehlung angemessen ist und ob der Soldat im Hinblick auf die Art und Schwere der Dienstpflichtverletzung noch tragbar oder untragbar ist. Die Frage der Angemessenheit des Eingriffs im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck ist hier in Gestalt einer Vorabbewertung durch den Gesetzgeber jedenfalls im Wesentlichen bereits durch die Vorschrift selbst – und zwar auf der Tatbestandsebene – konkretisiert worden. So setzt § 55 Abs. 5 SG mit der Begrenzung der Rechtsfolge auf Fälle einer „ernstlichen“ Gefährdung einen besonderen Gefährdungsgrad voraus; außerdem grenzt er in zeitlicher Hinsicht die Entlassungsmöglichkeit auf die ersten vier Dienstjahre ein. Für zusätzliche Erwägungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist somit nach der Gesetzeskonzeption im Rahmen des § 55 Abs. 5 SG (grundsätzlich) kein Raum.Vgl. zum Ganzen: BVerwG, z. B. Urteile vom 31. Januar 1980 – 2 C 16.78 -, a.a.O., und vom 24. September 1992 – 2 C 17.91 -, a.a.O.

Dies zugrunde gelegt, ist das Ermessen der zuständigen Behörde, beim Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG vom Ausspruch der fristlosen Entlassung absehen zu können, trotz des Wortlauts „kann“ (und nicht „soll“) im Sinne einer sog. „intendierten Entscheidung“ auf besondere (Ausnahme-)Fälle zu beschränken, vgl. etwa OVG NRW, Urteil vom 26. August 1999 – 12 A 2849/96 -, a.a.O.; Bayerischer VGH, Urteil vom 25. Juli 2001 – 3 B 96.1876 -, Juris; VG Stade, Urteil vom 18. März 2004 – 3 A 1563/03 -, a.a.O., und zwar solche, die der Gesetzgeber in seine vorweggenommene Verhältnismäßigkeitsabwägung nicht schon einbezogen hat bzw. einbeziehen konnte, weil sie beispielsweise gerade den jeweils in Rede stehenden Fall völlig „atypisch“ prägen. In Konsequenz dessen gibt es auch keine generelle Verpflichtung der Behörde, in jedem einzelnen Falle im Rahmen der Begründung der Entlassungsverfügung bzw. des Beschwerdebescheides (zusätzliche) Ermessenserwägungen ausdrücklich anzustellen. Ebenso OVG NRW, Beschlüsse vom 6. November 1996 – 12 B 1525/96 – und vom 14. November 1996 – 12 B 1647/96 -.41

Es reicht vielmehr aus, dass sich die Behörde den Umständen nach des in atypischen Fällen gesetzlich eingeräumten Ermessens bewusst gewesen ist und sie etwa bestehende Besonderheiten (im obigen Sinne) zutreffend geprüft und verneint hat.

Verfahrensdaten


Verfahrensart: Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO

Entscheidendes Gericht: Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen

Aktenzeichen: 1 B 2009/04

Datum: Beschluss vom 20. Januar 2005

Volltext der Entscheidung in der Rechtssprechungsdatenbank NRW: OVG NRW 1 B 2009/04

Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, 1 B 2009/04
Verwaltungsgericht Aachen, 1 L 668/04

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